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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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der Zeit schon mit so vielen Leuten geschlafen habe und heute Nacht ganz allein schlafen werde. Einmal mochte ich aus lauter Scham nicht in diesem Bett, das Klaus’ Bett war, schlafen, weshalb ich die Nächte dann auf der Couch im Wohnzimmer verbrachte, die viel zu weich für den Rücken ist. Zum Glück habe ich diese elende Gefühlsirritation, zumindest was diesen Ort angeht, längst überwunden.
    Wyk liegt vor mir in den grauen Schlieren eines nordfriesischherbsttrüben Nachmittags so richtig wie aus der Klischeekiste. Es nieselt ganz fein und dauerhaft, und der Wind rüttelt in Böen an den bereits kahlen Bäumen und an den alten Reetdächern. Die Sonne, so sie hier heute denn überhaupt geschienen hat, nähert sich irgendwo hinter der geschlossenen Wolkendecke dem Horizont, um sich für die Nacht einen besseren, ihr freundlicher gesonnenen Fleck Erde zu suchen. Die Dunkelheit wird Balsam für die witterungsbedingte Trostlosigkeit der Stadt sein. Dabei verdient Wyk die Bezeichnung Stadt nicht einmal ernsthaft, ist es doch in Wirklichkeit nur ein größeres Dorf, selbst für schleswigholsteinische Verhältnisse und ganz besonders dann, wenn man sonst richtige Städte wie Hamburg oder Berlin gewohnt ist. Ganzjährig leben hier nur knapp viertausend Menschen, in der Hochsaison kommen noch einmal rund zwanzigtausend Touristen dazu. Auch das ist nicht viel. Die höchsten Erhebungen bilden, eben typisch für diese Art Siedlung, die Kirchtürme, ansonsten überragen die Dachfirste noch nicht einmal die Baumkronen. Und die meisten Gebäude sind einfach nur hässlich. Billig errichtete Touristenabsteigen, wie man sie auch überall sonst in deutschen Seebädern und Luftkurorten findet. Nur die alten Fischerhäuser mit ihren weiß getünchten Wänden und den teils schon moosig-grünen Reetdächern sind wirklich schön und bieten mit ihrem pittoresken Anblick eine Atempause in der Beliebigkeit und Belanglosigkeit der modernen Architektur. Selbst in Dunst und Nieselregen erfreuen sie das Auge, wirken sie regelrecht verwunschen, wie Erscheinungen aus einer anderen, vielleicht sogar besseren Zeit und Märchenwelt.
    Ich habe vier Stadtporträts gemalt, so ziemlich die einzige Ausnahme von meinem üblichen Schaffen, in denen ich diese Diskrepanz zwischen alt und neu in Verbindung mit dem schlechten Wetter zu betonen suchte. Kleinformatige Dinger, die mir, wie ich finde, ganz gut gelungen sind. Eins davon habe ich Klaus geschenkt, nicht zum Geburtstag, sondern einfach nur so, und er hat sich auch ehrlich darüber gefreut und mir überschwänglich gedankt. Die anderen wollte ich von meinem Galeristen verkaufen lassen, der sie sich zwar nur naserümpfend ansah und fragte, was das denn solle, aber natürlich trotzdem bereit war, seine Arbeit zu erledigen. Kritik und Presse jedoch verrissen die drei Bilder mehr oder weniger gnadenlos. »Schuster, bleib bei deinen Leisten«, titelte das
Hamburger Abendblatt
, um dann fortzufahren: »Nicht nur liegt ihm die Form des Aquarells nicht, sondern auch das Sujet ist nicht seins. Der Versuch des Künstlers, seine Palette zu erweitern, mag ehrenhaft sein, darf aber getrost als gescheitert angesehen werden.« Die
Berliner Zeitung
, die die Sache ebenfalls aufgriff, als handelte es sich nicht um eine Ausnahme, sondern um die ersten Anzeichen für eine schwerwiegende Akzentverschiebung in meiner Arbeit, für die ersten Vorläufer einer künstlerischen Revolution, die nur nach hinten losgehen könnte, schrieb sogar: »Keine Frage, dem Künstler gelingt es durchaus, die Stimmung des Ortes einzufangen, die ganze Sinn-, Zweck- und Trostlosigkeit eines zum reinen Touristenort verkommenen Städtchens in der Nebensaison – und ungefähr so fesselnd fürs Auge sind diese drei Werke dann eben auch.« Nur die
Bild-Zeitung
, die mir einen ihrer öffentlichen Briefe schrieb, jubelte über meine Abkehr von dem »widerlichen Schwulensex und der ekelerregenden Gewalt« und riet mir, mich »zukünftig mehr auf fröhliche, positive Aspekte des Lebens zu konzentrieren, der Düsternis endgültig abzuschwören. Warum muss es denn unbedingt regnen auf diesen Bildern? Sonnenschein hätte auf den Kunstfreund doch eine viel erbaulichere Wirkung. Der hätte dann auch eine viel größere Lust, mal wieder nach Föhr zu fahren und die Schönheiten seiner eigenen Heimat zu entdecken. Dann bräuchten wir Mallorca nicht mehr.»
    Danach zog ich die Bilder zurück. Nachdem sie nach drei Wochen immer noch unverkauft in der Galerie

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