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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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ganz blind vor Beschämung, auf und stolpere die wenigen Meter vor zur Zugtoilette, mir den schmerzenden Bauch haltend. Zum Glück finde ich sie frei vor, sonst hätte es ein ekliges Malheur gegeben. Ich reiße mir die Hose runter und schaffe es gerade noch, mich hinzusetzen auf die schmutzige Leichtmetallbrille, da schießt es auch schon heiß und flüssig und bestialisch stinkend aus mir heraus, mein Durchfall, mein selbst gedemütigtes Ich. Da ich kaum etwas gegessen habe die letzten Tage, kann es kaum das Produkt meiner Verdauung sein, es ist das Abfallprodukt meiner Scham und Angst, die sich so Luft machen. Ich weiß, dass es so ist, auch das passiert nicht zum ersten Mal. Und so wische ich mir die wässrigen Reste von Scheiße, Blut und Sperma ab, jedes Wischen erzeugt ein Brennen dort unten, eins, das mir zuflüstert, spätestens jetzt sei wohl eh alles zu spät. Ich wische mir den Schweißfilm von der Stirn, spüle und bleibe noch ein paar Minuten sitzen, bis sich mein Kreislauf wieder einigermaßen stabilisiert hat und ich aufstehen kann. Ich bin krank, denke ich, jetzt habe ich mir endgültig etwas eingefangen. Das letzte Virus nämlich, den angebeteten Dämon, der lange schon in deinem Hinterkopf nistet und dir lieblich die größte Freiheit durch den größten Schrecken verspricht, spätestens jetzt hast du ihn endlich eingelassen. Allein, ich fühle mich nicht von aller Last befreit, mir ist hundeelend zumute. Allein und ungeliebt sitze ich auf einer IC-Toilette während einer überstürzten Reise ins Nirgendwo, um mich zu verkriechen, vor Selbstmitleid zu vergehen, um mir vorzustellen, dass alle anderen mich jetzt erst recht aus ihrer Gemeinschaft ausstoßen werden. Wie ich es auch nicht anders verdient habe. Ich allein.
    Mit bei jedem Schritt schmerzendem Anus schleiche ich zurück zu meinem einsamen Gangplatz am Ende des Waggons, der mir jetzt sehr passend für jemanden wie mich, einen Ausgestoßenen, weil Aussätzigen, erscheint. Ich hab es gar nicht anders verdient, als hier am Rande der Gesellschaft zu sitzen und schon gar nicht mehr dazuzugehören. Das ist meine gerechte Strafe. Also setze ich mich hin, schlage die Augen nieder und warte nur noch darauf, endlich Hamburg zu erreichen, dort den Zug wechseln und glücklich weiter in die insulare Einöde reisen zu können. Föhr als Quarantänestation und Isolierzelle – damit würde das Fremdenverkehrsamt der Insel wohl auch lieber nicht werben wollen, denke ich mit einem Totenschädelgrinsen.
    Ebenso schnell, wie meine kleine gute Laune aufgekommen ist, ist sie auch schon wieder verflogen – die Sprunghaftigkeit meines Wesens war schon immer mit mein größtes Problem. Die einzige Konstante in meinem Verhalten ist, dass ich, ob ich mich nun gut oder schlecht fühle, immer Anschluss an andere suche, weder das eine noch das andere allein aushalten mag. Nur beim Malen kann und will ich allein sein, denn da befinde ich mich in einem Zustand jenseits von Gut und Böse, in meinem kleinen, kontemplativen Garten Eden der Ausgeglichenheit. Von dem kann in einem überfüllten Zug zur Ferienzeit aber natürlich keine Rede sein.
    Dieses Mal begehe ich den Fehler aufzublicken. Mein Blick trifft sofort auf eine alte Schachtel in einem dunklen, mit Blumen bedruckten Kleid, einer Perlenkette um den dürren Hals und grauen, zu einem Dutt frisierten Haaren mir am Gang schräg gegenüber. Wieso reisen alte Leute eigentlich immer in ihrem Sonntagsstaat? Zu reisen ist doch kein Fest, es ist eine Tätigkeit, oft genug eine Pflichtübung. Wenn man seinen Zielort erreicht hat, dann kann man sich herausputzen mit allem billigen Flitter, den man besitzt, aber doch nicht schon vorher, das ist die reinste Verschwendung.
    Die Oma muss mich schon eine geraume Weile beobachtet haben und dabei immer sorgenvoller geworden sein. Denn kaum sieht sie nun, dass sie meine Aufmerksamkeit gewonnen hat, beugt sie sich vor und flüstert laut genug, dass es einfach jeder hören muss:
    »Wird es denn gehen, junger Mann?«
    Ich sehe sie erschrocken, entgeistert an, frage mich ein paar Takte lang, was sie wohl meint, dann fällt mir der Anblick meines eigenen Gesichts ein, wie ich es eben gerade noch ganz kurz im Spiegel auf dem Bord-WC gesehen habe: seit Tagen unrasiert, eingefallen, bleich, wenn nicht gar käsig, mit Augen, die tief in ihre Höhlen gesunken sind und dunkle Trauerränder tragen, und einem Haarschopf darüber, der nach dem Duschen heute Morgen nicht die zivilisierende Segnung

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