Die unsicherste aller Tageszeiten
die zwischen der ersten und zweiten Klasse gewesen sein, wir waren alle zu lange schon im Haus eingesperrt und Lagerkoller machte sich breit, da krachte es mal wieder gewaltig bei uns zu Hause. Die Stimmung war gereizt, die Luft wurde dicker und dicker, wir alle hätten mal wieder unbedingt vor die Tür gemusst. Ich wäre auch gegangen, aber weil meine Mutter fürchtete, ich könnte mich in dem kalten Regen erkälten, durfte ich nicht raus. Da konnte ich auch noch so sehr quengeln, Mama wiederholte nur ein ums andere Mal ihr Nein, und schließlich platzte Papa der Kragen, er schrie mich an, endlich auf mein Zimmer zu gehen und still zu sein: »Sonst setzt es was, du Nervensäge!«
Zuerst starrte ich nur durch das regennasse Fenster nach draußen, bis mir das triste Sommergrau zu langweilig wurde. Was sollte ich nur tun? Im Vorjahr waren wir an einem verregneten Tag alle zusammen mal in einem Zirkus gewesen, das hatte Spaß gemacht – und plötzlich kam mir die Idee, wenn ich nicht in einen Zirkus gehen konnte, dann veranstaltete ich eben selber einen. Also holte ich mir alle meine Kuscheltiere und Spielzeugfiguren zusammen, um sie als Artisten und dressierte Tiere auftreten zu lassen. So spielte ich eine Weile vor mich hin. Dann aber fiel mir auf, dass ein Zirkus ohne Zuschauer nicht funktionierte. Nur woher sollte ich die nehmen, wenn mein eigenes Spielzeug schon komplett eingesetzt war? Und den Zirkus verkleinern, nur um ein paar Zuschauer übrig zu haben, das ging nun wirklich nicht, mein Zirkus sollte schließlich der größte der ganzen Welt sein! Da gab es nur einen Ausweg: Zwangsrekrutierung.
Meine beiden Brüder, die damals, obwohl ein Jahr auseinander, leicht den Eindruck erweckten, eineiige Zwillinge zu sein, spielten mit ihren He-Man-Figuren, meine kleine Schwester saß dabei und porträtierte ihre Puppen, Filzstift auf Küchenkrepp und Fingerkuppen. Die einen wie die anderen aber brauchte ich jetzt, und zwar ausnahmslos alle, also nahm ich sie ihnen einfach weg und rannte davon in mein Zimmer. Das Geschrei war nicht nur groß, sondern ohrenbetäubend, und da die Nerven infolge des Frischluftmangels sowieso allseits angespannt waren und mein Vater einer von den Dünnhäutigen war, ganz besonders, wenn es um mich, die Nervensäge, den Störenfried, den kleinen Terroristen, ging, krachte es gewaltig – eigentlich war ich damals noch sein kleiner Prinz, nur wenn ich mich zu offensichtlich danebenbenahm, riss ihm der Geduldsfaden bei mir noch viel schneller als bei den anderen. Schlösser für die Kinderzimmertüren gab es nicht, und mein Versuch, meine Tür mit einem Stuhl zu versperren, ich hatte ihn einfach nur ganz normal davor gestellt, hatte noch nicht begriffen, dass ich ihn hätte kippen und unter die Klinke klemmen müssen, erwies sich schnell als müßig. Mein Vater trat beinahe die Tür ein, der Stuhl flog einmal quer durchs Zimmer, verwüstete meine aus Bauklötzen gebaute Manege und tötete diverse Artisten und Zirkustiere, doch war das alles nur mehr nebensächlich, denn schon stand er über mir wie ein zorniger Donnergott.
»Was fällt dir ein, deinen Geschwistern ihr Spielzeug wegzunehmen!«, schimpfte er. »Die gehören dir nicht. Du hast genug eigenes Zeug hier rumliegen, da brauchst du das der anderen nicht auch noch.«
»Doch«, jammerte ich, »sonst ist es langweilig.«
»Dann spiel was anderes! Warum musst du uns allen ständig auf den Geist gehen?«
»Ich wollte ja raus, aber ich darf nicht.«
»So? Du willst raus? Na, das kannst du haben!«
»Thorsten, was machst du da?«, schaltete sich meine Mutter leise ein, die sich mittlerweile angeschlichen hatte und ahnte, was kommen würde.
»Das wirst du gleich sehen«, antwortete er, packte mich am Schlafittchen und schmiss mich raus in den Regen, nur mit T-Shirt, Trainingshose und Socken bekleidet. Ich hörte noch, wie meine Geschwister über mich lachten, woraufhin ihnen gedroht wurde, ebenfalls rauszufliegen, wenn sie nicht auf der Stelle in ihren Zimmern verschwänden. Dann krachte die Tür zu und drehte sich der Schlüssel im Schloss. Ich heulte erst, bollerte mit den Fäusten gegen die Tür und klingelte Sturm, bis mein Vater mir durch die Tür eine Tracht Prügel androhte.
Da gab ich meinen Protest auf. Hatte ich nicht, was ich wollte? Natürlich nicht wirklich, es war alles andere als schön im Regen, und so allein wusste ich mit mir auch nichts Rechtes anzufangen. Also blieb ich vor der Tür sitzen und wartete darauf,
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