Die unsicherste aller Tageszeiten
wieder eingelassen zu werden. Das war zum Abendbrot der Fall, allerdings wurde ich ohne das ins Bett geschickt. Und dieses Mal überwachte mein Vater auch, anders als sonst üblich, wenn er es von selbst bald wieder aufhob, das Verbot, sodass meine Mutter mir nicht doch noch mehr oder weniger heimlich eine Scheibe Brot und ein Glas Milch bringen konnte. Ich schlief hungrig und unzufrieden ein und bekam auch wirklich eine Erkältung, die mich nur noch ungnädiger meiner Familie gegenüber werden ließ und sie wütender auf mich.
Gelernt habe ich nichts aus dieser Episode, mein Verhalten hat sich bis heute nicht geändert. Meine Eltern waren aber auch keine guten Pädagogen. Mein Vater beließ es dabei, Richter und Henker in Personalunion zu sein, meine Mutter gefiel sich zu sehr in der Rolle einer Mutter Theresa, die die Strenge ihres Mannes mit übermäßiger, alles verzeihender Güte unterminierte. Und meine Geschwister waren feige Tölpel, die aus Furcht, ebenfalls hungrig ins Bett geschickt zu werden, lieber die Klappe hielten und ihren Frust dann, hinter Vaters Rücken, an mir, dem Aufsässigen, der sie mit seiner Aufsässigkeit alle in Gefahr zu bringen drohte, ausließen. Das machte mich freilich nur noch aufsässiger und hinterhältiger, denn wenn Papa jemandem damals noch seine Aufsässigkeit verzieh, dann mir.
Manchmal vermag die Erinnerung die Wahrnehmung zu schärfen. Mir wird plötzlich klar, dass mein Bauch nicht nur grummelt, weil mir Angst und schlechtes Gewissen in den Eingeweiden rumoren, weil der saure Alkohol darin noch immer seine zersetzende Wirkung zeitigt, sondern auch vor Hunger. Meine letzte echte Mahlzeit ist gestern Abend gewesen, ein paar Nudeln mit versalzener Tomatensoße, und die Soße natürlich fertig im Supermarkt gekauft. Davor habe ich irgendwann gegen Mittag ein leichtes, geschmackloses Frühstück zu mir genommen, bestehend aus Toast mit Wurst und Käse und unreifem Obst, und irgendwann dazwischen eine Tafel Schokolade. Normalerweise achte ich auf meine Ernährung, denn ernähre ich mich ausgewogen, profitieren davon sowohl mein Geist und damit meine Arbeit als auch mein Körper, das Kapital meiner fleischlichen Reize. Weil ich mich aber gerade so sehr aus dem Gleichgewicht gebracht fühle, gelingt es mir kaum, anständig für mich zu kochen. Sobald ich Stress habe – und es ist dabei ganz egal, ob andere mir den verursachen oder ich selbst dafür verantwortlich bin – geht als Erstes immer das gesunde Essen über den Jordan. Ich werde dann sehr gleichgültig, allem gegenüber, und konsumiere nur noch aus Langeweile und Überdruss anstatt aus Appetit und Verlangen, als würden meine gestressten Nervenzellen eine Art Mehltau absondern, der sich über meine Geschmacksknospen legt und verhindert, dass sie noch länger vernünftig arbeiten. Kommt der Geschmack, kommt die Freude am Essen, am Salz auf der Haut zurück, dann weiß ich, ist die Krise überstanden. Dann kann ich auch wieder zurück in mein Atelier und Erfüllung in meiner Malerei finden – aber davon bin ich zurzeit noch meilenweit entfernt.
Bin ich in einer solchen Verfassung, gibt es nichts Besseres als Fast Food. Das Zeug ist so übel wie sein Ruf, es ist der passende Epilog für meinen nächtlichen Selbstzerstörungstrip. Also gehe ich zu einer dieser weltweit agierenden Ketten, die auch auf diesem Bahnhof ihre Metastasen ausgebildet haben, und kaufe mir eine Tüte voller in reinstem Fett gegarter Dinge zum Essen, jedes einzeln verpackt in Papier und Pappschachteln, die ich, wie es sich gehört, sorglos zu Boden fallen lasse, nachdem ich sie geleert habe. Die Produktion von Müll gehört bei dieser Art der Nahrungsaufnahme untrennbar dazu, denn sie symbolisiert den grenzenlosen Raubbau, an der Natur, der Arbeitskraft und dem eigenen Körper, den man mit ihr um des größtmöglichen Profites willen betreibt. Während ich mir also mit immer fettigeren Fingern Burger, Pommes und Geflügelimitationen aus Pressspan ins Maul stopfe, laufe ich kreuz und quer über den Bahnhof – Fast Food im Sitzen, in Ruhe zu essen, ist ebenso falsch – und ziehe eine Spur aus Abfall hinter mir her. Zwischendurch spüle ich immer wieder alles mit Cola aus einem bottichgroßen Pappbecher runter, der mehr Eiswürfel als alles andere enthält, vermutlich aus Abwasser, sonst würde es die Produktionskosten zu sehr in die Höhe treiben. Irgendwann sind zwar meine Hände, die ich beide brauche, um den Becher halten zu können, blau
Weitere Kostenlose Bücher