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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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Karsten, der war der Grund, warum du dich geoutet hast, nicht wahr?«
    Mir wäre beinahe der letzte Bissen im Hals stecken geblieben, ich glotzte sie aus tellergroßen Augen an – und schwieg, abwartend, misstrauisch.
    »Und inzwischen ist es vorbei, oder?«
    Ich nickte andeutungsweise. Worauf wollte sie hinaus?
    »Hast du ihn wirklich geliebt, oder warst du eher verknallt in ihn?«
    »Was soll die Frage?«, stammelte ich.
    »War er deine erste große Liebe oder doch nur eine heftige Schwärmerei? Manchmal kann man so etwas ja erst nach einer gewissen Zeit richtig sagen, wenn man ein wenig Abstand dazu gewonnen hat. Und zwischen euch war es ja auch scheinbar ziemlich schnell wieder vorbei.«
    »Das lief den ganzen Sommer.«
    »Oh.«
    »Bis zu dem Ausflug nach Heide, den er vorgeschlagen und geplant hat. Das war sein großes Versprechen an mich. Und dann hat er es gebrochen.«
    »Er hat dich nur benutzt?«
    »Er hat mich fallen lassen wie eine heiße Kartoffel!« Mir stiegen prompt die Tränen in die Augen, Tränen ebenso der Trauer wie der Wut. »Er ist so ein Feigling!«
    »Er ist verheiratet. Er hat eine Frau und Kinder.«
    »Jetzt komm mir bloß nicht wieder mit der Kinderfickernummer. Damit hat das nichts zu tun.«
    »Nein, nein, keine Angst, darum geht es mir nicht.«
    Ich sah sie an, glaubte ihrer Beteuerung nicht, befürchtete jetzt mehr denn je eine neuerliche Wendung hin zur Verurteilung und Verdammung. Wollte sie mich etwa doch noch immer zum Psychiater schicken, war das hier ihr nächster Versuch?
    »Worauf ich hinaus will, ist Folgendes«, erklärte sie mit weicher, einfühlsamer Stimme und sah mich mit einem Blick an, überladen mit Verständnis und Mitgefühl. »Ob er für dich nun nur eine Schwärmerei war oder richtige Liebe, so oder so, du hast etwas für ihn empfunden, richtig?«
    Ich nickte wieder nur knapp.
    »Und du wirst auch für andere Männer so oder ähnlich empfinden.«
    »Vermutlich.« Ich sagte es eher mechanisch, vorstellen, jemals wieder einen anderen zu lieben, konnte ich mir zu diesem Zeitpunkt überhaupt nicht, die Wunde war noch allzu frisch.
    »Du bist wirklich schwul«, konstatierte sie und zögerte nur ganz kurz vor dem letzten Wort.
    »Ja«, stotterte ich.
    Wir schwiegen beide mehrere Takte lang, kauten auf unseren Stullen herum, bis sie sich in unseren Mündern in einen faden, verklumpenden Brei verwandelt hatten, der sich nur schwer herunterschlucken ließ. Ich mied ihren Blickkontakt, denn so erfreulich der Verlauf dieses Gesprächs bisher auch gewesen sein mochte, ich wünschte mir, es wäre Zeit für den Schulbus. Noch immer erwartete ich, dass sich gleich unter meinen Füßen eine Falltür öffnen und mich in die Tiefe reißen würde. Und meine Mutter war auch tatsächlich noch nicht fertig.
    »Weißt du, ich habe in letzter Zeit viel nachgedacht und gelesen«, setzte sie an. »Ich bin sogar regelmäßig nach Neumünster in die Stadtbibliothek gefahren und habe mich dort noch einmal systematisch durch alle Bücher gearbeitet, die sie zum Thema Homosexualität haben. Ansatzweise habe ich das schon in den paar Tagen gleich nach deinem … deinem Coming-out gemacht, aber damals eher panisch und eigentlich ohne jeden Sinn und Verstand.«
    Aus großen Kuhaugen sah sie mich um Entschuldigung heischend an.
    »Damals habe ich mir Munition geholt, jetzt wollte ich Information. Trotzdem waren einige der Bücher noch immer richtig widerlich und ekelerregend. Ich wäre am liebsten schreiend davongerannt, denn sie schienen jedes Vorurteil zu bestätigen, das ich hatte.«
    Sie rührte verlegen in ihrer Kaffeetasse herum, es klirrte sehr laut in meinen Ohren. Danach behielt sie den Löffel in der Hand, als hielte sie sich an ihm fest.
    »Andere dagegen waren wirklich hilfreich, machten Mut.« Sie lächelte zaghaft und sah dabei aus wie ihre eigene Tochter in jungen Jahren. »Ich muss aber auch gestehen, dass sie mich etwas verwirrten, denn ich konnte nicht gleich verstehen, wie es zu diesem krassen Unterschied in der Darstellung kommen konnte, dass die einen Homosexualität rundweg ablehnten und verdammten, während die anderen sie plötzlich so positiv und als überhaupt nicht schlimm zeigten. Diesen Widerspruch begriff ich erst, als mir auffiel, wann die einzelnen Werke erschienen waren, und etwas später auch, wer sie jeweils geschrieben hatte. Erst nachdem ich begriffen hatte, dass ich von den Büchern mehr lesen musste als nur ihren Text. Auch der Zusammenhang, in dem sie

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