Die unsicherste aller Tageszeiten
habe Appetit; auch das nehme ich als Beweis dafür, dass ich mich auf dem Weg der Besserung, heraus aus meiner Nerven- und Angstkrise befinde. Es gibt Friesentee und Toastbrot mit Butter, Nutella und Honig. Als noch süßeres Dessert trinke ich eine Dose Cola. Wenn ich jetzt eine Zigarette hätte, würde ich die auch noch rauchen. Dazu stelle ich das Radio an. Nicht, weil ich die Stille im Haus, die immer noch nur von mir als einzige darin befindliche Person durchbrochen wird, nicht ertragen könnte, sondern weil ich schon immer morgens zum Frühstück gerne Radio gehört habe. Zumindest in den späteren Jahren, wenn es vorkam, dass ich alleine oder nur zusammen mit meiner Hausfrau und Mutter am Frühstückstisch saß, weil ich erst später in die Schule musste als meine Geschwister und als mein Vater zur Arbeit. Am liebsten hörte ich dann die Nachrichten mit anschließendem Wetterbericht, der, auf den NDR-Programmen jedenfalls, immer auch die Wasserstandsmeldungen und Sturmwarnungen einschloss. Manchmal, ganz selten, verkündeten sie dann sogar orkan- oder, noch seltener, schneebedingt schulfrei.
Das Frühstück war in allen Jahren die Mahlzeit, die wir gemeinsam als Familie einnahmen. In jungen Jahren auch das Abendbrot, aber das ließ sich nicht durchhalten mit zunehmendem Alter von uns Kindern und unseren immer weiter auseinanderdriftenden Einzelinteressen. Und das war auch gut so, denn die Mahlzeiten in unserem Familienkreis verliefen selten friedlich. Es mochte nicht immer offenen Streit, Gebrüll und beleidigtes Geheul geben, dafür musste man immer mit kaltem Krieg zwischen einzelnen Parteien rechnen, weil irgendwer gerade mal wieder auf irgendwen aus welchem Grund auch immer sauer war. Meistens hatte ich damit zu tun. Selbst wenn ich mal nichts konkret ausgefressen hatte, betrachteten mich mein Vater und meine Brüder mit Argwohn und Abneigung, denn in ihren Augen war ich der Schwächling und das Weichei, die Tunte, das die Herde gefährdende kranke Tier, für das die Natur nur ein folgerichtiges Schicksal vorgesehen hatte: die Ausmerzung. Meine bloße Anwesenheit reizte sie, meine Existenz, mit der sie tagtäglich konfrontiert wurden, für die sie sich immer wieder im Freundes- und Bekanntenkreis rechtfertigen mussten, autorisierte sie, mir das Leben zur Hölle zu machen. Heute spielt das kaum mehr eine Rolle, zumindest nicht mehr zwischen meinen Brüdern und mir, damals aber war es die Wunde, die nicht heilen wollte. Für den Rest des Tages ging ich ihnen nach Möglichkeit aus dem Weg oder suchte ganz bewusst die Konfrontation, beim Frühstück hatten wir alle keine andere Wahl, der Hahnenkampf begann, kaum dass wir am Tisch saßen.
Die Fronten waren klar verteilt: auf der einen Seite Vater, älterer Bruder Nummer eins und älterer Bruder Nummer zwei, auf der anderen ich, meine kleine Schwester zwischen allen Fronten, bald zur einen, bald zur anderen Seite neigend, mit fortschreitender Reife immer häufiger auf ihrem eigenen Standpunkt verharrend, und ganz außen vor meine Mutter, die so tat, als sähe und hörte sie nichts. Sogar an dem, was und wie wir aßen, war diese Rollenverteilung zu erkennen: Meine männlichen Verwandten aßen derbes, herzhaftes Zeug, Hauptsache Fleisch, und sie fraßen wie die Schweine; meine Schwester bevorzugte Müsli mit frischem Obst, war aber auch gelegentlich einem ordentlichen Wurstbrot nicht abgeneigt; meine Mutter verspeiste eine Pampelmuse oder das, was ihr neuester Diätplan gerade vorschrieb; ich hingegen bekam nur Süßes um die Uhrzeit und auf nüchternen Magen herunter. Ich aß Honig, Nutella, Marmelade oder Kuchen vom Vortag, wenn noch welcher übrig geblieben war – und das reichte meistens schon aus, war der Funke, der das Gas der Aggression, das wir ausdünsteten, entzündete, denn bestätigte es doch nur das Verweichlichte, ja Weibische meines Charakters. Aus angewiderten Blicken wurden schnell Sticheleien und bald offene Beschimpfungen. Meistens gab ich sofort Kontra, so leicht ließ ich mich nicht unterkriegen, manchmal erwischte es mich aber auch kalt, und weil ich von keiner Seite Hilfe erwarten konnte, lief ich, in der Regel heulend, auf mein Zimmer und versteckte mich dort so lange, bis der Schulbus fuhr und ich losmusste. Zwei- oder dreimal kam es auch vor, dass meiner kleinen Schwester plötzlich der Kragen platzte, sie es nicht mehr ertrug, wie wir uns alle gegenseitig fertigmachten. Meine Schwester, das unbekannte Wesen, das nur seinem Tagebuch
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