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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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nicht einmal einen ganzen Tag zuvor erst aufgetaucht ist. Nur durch die geöffnete Tür fällt trübes Regenlicht ins Innere.
    »Ich hab die Schonbezüge vergessen«, fällt mir auf, weil die weißen Flecken im Dämmerlicht, die mich bei meiner Ankunft hier begrüßt haben, fehlen. Darum kann sich der Hauswart kümmern, das Trinkgeld, das ich ihm dagelassen habe, ist hoch genug.
    Ich hänge mir meine Reisetasche über die Schulter, gehe nach draußen, schließe die Tür zweimal ab, verstaue den Schlüssel sorgfältig in seinem Etui, stecke es mir in die Hosentasche, lasse einen letzten, liebevollen Blick über Hauswand und Reetdach schweifen, dann gehe ich davon. Ich passiere das Kieferknochentor, streichle es zum Abschied mit den Fingern, denke mir ein abschiedsseliges »Bis bald« dazu und gehe geradewegs zum Hafen. Anders als sonst drehe ich mich diesmal nicht um, um noch einen allerletzten Blick auf mein geliebtes Elysium zu erhaschen.
    Weil die Ferien vielerorts gerade erst begonnen haben, will an diesem Sonntagmorgen noch kaum jemand von der Insel runter, die Leute sind alle erst in der Anreise begriffen. Meine gute Laune kann sich einen weiteren Punkt gutschreiben. Ich genieße das verhaltene Treiben am Fähranleger, den Blick auf die stumpfgraue See unter dem ebenso stumpfgrauen Himmel, die sich gerade schon wieder daranmachen will, sich vom Land zurückzuziehen, während ich darauf warte, dass die nächste Fähre aus den Regenschleiern auftaucht und mich den ersten Schritt zurück nach Berlin bringt. Es macht mir nichts aus, dass ich nass werde, ich fürchte keine akute Erkrankung mehr, denn wenn ich nach letzter Nacht noch nicht einmal den leisesten Schnupfen habe, nur ein kaum spürbares Kratzen im Hals deutet auf eine mögliche Erkältung hin, kann mich das jetzt auch nicht mehr umhauen. Ich fühle mich gesund und munter, stark, widerständig. Ich fühle mich einfach gut. Und kurz bevor die Fähre tatsächlich anlegt, gehe ich noch schnell in eins der geöffneten Geschäfte und kaufe mir ein Buch für die Rückreise, einen Krimi, in der Eifel spielend, blutig, spannend und mit einer klaren Auflösung am Schluss. Jetzt kann ja gar nichts mehr schiefgehen, denke ich und fühle mich regelrecht in Hochstimmung versetzt. So habe ich mich sonst nur nach meinen beiden Umzügen nach Hamburg und Berlin gefühlt oder wenn ich ein neues Bild oder auch eine ganze Bilderserie beginne oder frisch verliebt bin oder, ganz selten, einen echt fantastischen Fick erlebt habe. Noch besser wird dieses Gefühl sogar, wenn das alles oder doch wenigstens mehrere Einzelteile davon zusammenfallen und ein größeres Ganzes bilden. So war es damals mit Klaus gewesen, der genau zur richtigen Zeit in mein Leben trat, als ich sowieso schon von einer Welle kreativer Säfte überflutet wurde, die er dann mit seiner puren Anwesenheit noch veredelt hat. Auch Hannes traf ich in einer vergleichbaren Situation, in der ich unbeschwert, kreativ und erlebnishungrig war.
    Meine Mutter merkte das sofort, allein am Klang meiner Stimme, obwohl die auch noch von der Telefonleitung verfremdet wurde. Seit meinem Auszug, seitdem gemeinsame Frühstücksmahlzeiten nicht mehr möglich waren, hatten wir uns aufs gelegentliche Telefonieren verlegt. Im Schnitt alle drei bis vier Wochen ruft sie an, notfalls so lange, bis ein Gespräch zustande kommt. Erreicht sie nur meinen AB, hinterlässt sie lediglich die Nachricht, angerufen zu haben und es später noch einmal zu versuchen, meinen Rückruf jedoch verlangt sie nie. So nehme ich denn auch keine Rücksicht auf sie; wenn ich ausgehen will, gehe ich aus, wenn ich mich gerade im Atelier aufhalte, arbeite und das Schrillen des alten Fernsprechapparates durch die dicke Tür wahrnehme, gehe ich nicht ran, sondern male ruhig weiter. Bin ich aber gerade in meiner Wohnung und habe nichts zu tun, nehme ich sofort ab. Manchmal freue ich mich sogar auf ihren Anruf, eben immer dann, wenn mir gerade irgendetwas Gutes im Leben widerfährt und ich es einfach irgendjemandem mitteilen muss, obwohl ich eigentlich der Meinung bin, es niemandem mitteilen zu wollen.
    Ich denke, das ist es, was meine Mutter zwischen den einzelnen Wörtern und Sätzen heraushört. Sie erkennt mein unterdrücktes Mitteilungsbedürfnis, kitzelt es kurz durch ein wenig einleitenden Small Talk, spricht über so unnütze Dinge wie das Wetter oder Familienangelegenheiten, bis ich es schier nicht mehr zu ertragen vermag und es beinahe ganz unaufgefordert

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