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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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geschrieben worden sind, ist wichtig. Waren die Bücher alt und damit meistens auch ihre Verfasser, war ihre Auslegung so gut wie immer negativ. Dann beschworen sie Tod und Teufel und … und Isolation. Alle neueren Bücher dagegen warben um Verständnis und Toleranz, es sei denn, der Autor hatte einen konservativen und christlichen Hintergrund oder so.«
    Wieder sah sie mich an und bat mich mit einem weiteren Lächeln um Verzeihung für ihre lange, lange Blindheit.
    »Und da habe ich langsam erkannt, dass ich mir bisher nie eigene Gedanken über das Thema gemacht habe, dass ich bisher immer nur ein dummes Schaf gewesen bin, das bloß mit der Herde blökt.«
    »Mama, worauf willst du hinaus?«
    »Ich will dir sagen, dass es okay für mich ist, dass du schwul bist. Ich glaube, dass du trotzdem ein glückliches Leben führen kannst. Auf jeden Fall will ich nicht, dass du dich so wie dieser Karsten dazu gezwungen siehst, zu heiraten und eine Familie zu gründen, nur um den schönen Schein zu wahren. Ich will einfach nur, dass du glücklich wirst.«
    »Du willst dich also entschuldigen bei mir für deine Reaktion damals?«
    Sie musste lachen.
    »Wenn du es so willst, ja.«
    Ich merkte, dass sie es aufrichtig meinte, aber so leicht konnte ich ihr nicht verzeihen. Ich wollte ihr verzeihen, aber vorher musste ich ihr unbedingt noch einmal die Schwere ihrer damaligen Schandtat vor Augen führen.
    »Das hat nämlich echt wehgetan, so behandelt zu werden.«
    »Ich sagte doch gerade, ich will mich entschuldigen.«
    Doch auch das reichte natürlich nicht.
    »Und Papa?«
    »Was soll mit ihm sein?«
    »Wird der sich auch bei mir entschuldigen?«
    Sie zuckte mit den Schultern.
    »Das musst du mit ihm selber ausmachen, das weißt du.«
    »Der wird sich niemals bei mir entschuldigen. Am liebsten würde er mich noch immer totprügeln dafür, dass ich ihm diese Schande angetan habe!«
    Sie lächelte, unendlich traurig, wie mir schien.
    »Das wird er bestimmt nicht tun.«
    »Weil du es verhindern wirst?«
    »Notfalls ja. Aber nötig sein wird es nicht.»
    «Trotzdem, er wird sich niemals bei mir entschuldigen.«
    »Wir werden es sehen.«
    Wieder folgte Schweigen. Ich trank kalten Kaffee, sie schaute aus dem Fenster, auf die Spatzen, die im Rhododendron im Garten vor dem Haus spielten.
    Plötzlich fing sie an zu kichern.
    »Was ist los?«
    »In der Bibliothek …«, begann sie und kicherte noch stärker, »da habe ich auch so einen Ratgeber fürs Coming-out gelesen. Ganz offensichtlich von einem Homosexuellen geschrieben – den Namen habe ich leider schon wieder vergessen, Siemens oder so ähnlich – Anfang der Achtziger geschrieben und sogar bei einem der großen, etablierten Verlage erschienen. Der ließ nie auch nur einen Zweifel daran aufkommen, Schwulsein könnte nicht etwas vollkommen Normales sein, und er benutzte auch eine sehr deutliche Sprache. So sprach er etwa andauernd vom ›saftigen Bumsen‹.« Sie wurde puterrot und kicherte wie ein Schulmädchen. »Also so haben wir das damals nicht genannt.«
    Ich lächelte eher verlegen. »Wie denn dann?«
    Sie ging nicht auf meine Frage ein, sondern kostete ihr Gekicher noch ein Weilchen aus, bevor sie ganz plötzlich wieder ernst wurde und mich mit einer fast schon schmerzlichen Intensität ansah, mit einer Sorge, bei der mir ganz mulmig zumute wurde.
    »Was ist?«
    »Ich möchte nur, dass du vorsichtig bist, wenn du … wenn du …«
    »Bumst?«
    »Ja.« Sie atmete tief durch. »Ich habe auch einiges über AIDS gelesen und all die anderen Geschlechtskrankheiten. Sei vorsichtig, und benutz immer Kondome, wenn du …»
    »Bumst?«
    Sie verdrehte die Augen.
    »Das kannst du deinen beiden anderen Söhnen und später deiner Tochter auch mit auf den Weg geben. Die sind mindestens ebenso gefährdet wie ich.«
    »Das werde ich auch.«
    »Versprochen?«
    »Wenn du mir versprichst, immer auf Nummer sicher zu gehen.«
    »Okay. Versprochen.«
    »Versprochen.«
    Wir haben wohl beide in der Folge unser Versprechen gebrochen. Ich ohne jeden Zweifel, obwohl es mir durchaus ernst war damit und ich zumindest für den Rest meiner Schulzeit enthaltsam blieb, im Gegensatz zu dem, was dann während meines Studiums begann. Sobald ich in Hamburg angekommen war, war mein Schwur nur noch Makulatur, und die Karsten-Katastrophe zählte ja sowieso nicht, weil sie vorher gewesen war.
    Mama dagegen dürfte ihre anderen Kinder ebenfalls nicht eindringlich genug gewarnt haben vor dem, was alles bei

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