Die unsicherste aller Tageszeiten
ungeschütztem Geschlechtsverkehr passieren kann, denn sonst hätte sie es doch verhindern müssen, dass mein zweitältester Bruder mit Anfang zwanzig, mitten in der Ausbildung stehend und ohne echtes eigenes Einkommen, Vater wurde, nach einem One-Night-Stand, bei dem scheinbar beide, die zukünftige Mutter ebenso wie der zukünftige Vater, ziemlich stark alkoholisiert waren. Bier, Wein und Schnaps sind eben immer noch das beste Geburtenförderungsprogramm. Trotzdem: »Besser ein Baby als AIDS«, soll der mürrische Großvater gesagt haben und heute ziemlich stolz auf seine erste Enkelin sein, und das, obwohl das Balg total verzogen ist.
Unsere Versprechen sind nicht viel wert, aber weil wir alle lügen wie gedruckt, haben wir einander da auch nichts vorzuwerfen. Und so sind diese seltenen Gespräche am Frühstückstisch mit meiner Mutter, die nach meinem Auszug durch gelegentliche Telefonate ersetzt werden sollten, die angenehmste Erinnerung, die ich an meine Kindheit und Jugend in ihrer Obhut habe.
Damals deckten wir beide zusammen den Tisch ab, eine gemeinschaftliche Handlung, die das wunderbar Konspirative des Morgens auf die richtige Art und Weise abschloss. Normalerweise half meiner Mutter niemand im Haushalt, und auch ich rührte nur einen Finger, wenn man mir die Pistole auf die Brust setzte. Für meinen Vater und meine Brüder war Hausarbeit Frauenarbeit, etwas, das sie bequem auf ihre Ehefrau und Mutter, Tochter und Schwester abschieben konnten, weil es so schön ihr eigenes Rollenverständnis bestätigte. Kochen, Putzen, Waschen sind in ihren Augen niedere, dienende Tätigkeiten, die ein Mann, immerhin der Herr der Schöpfung, ohne Weiteres von einem Weibe einfordern darf. Dafür bekommt es ja schließlich auch Haushaltsgeld. Ich denke grundsätzlich nicht so, aber an meiner Mutter habe ich auch immer so gehandelt. Für mich war sie ebenfalls nur eine Dienstmagd, dass sie mir das Leben geschenkt hat, fiel gar nicht weiter ins Gewicht. Diese Einstellung änderte sich nur sehr langsam, und heute versuche ich, zumindest in dieser Hinsicht ein guter Sohn zu sein. Das gelingt nicht immer, manchmal falle ich fast schon automatisch in altes Verhalten zurück, verglichen aber mit den drei anderen Männern in der Familie bin ich ein echtes Vorbild an Respekt und Achtung für Frauen.
Der Wetterbericht meldet, dass das Regen- und Sturmtief nach Osten abgezogen sei, wo noch mit gewissen Einschränkungen zu rechnen sei. So sei die Fehmarnsundbrücke auch weiterhin für leere Lkw und Fahrzeuge mit Anhängern noch voraussichtlich bis zwölf Uhr mittags gesperrt. Ansonsten stehe Schleswig-Holstein ein ruhiger, wenn auch grauer und nasser Ferientag bevor.
Kein Hochwasser, keine Sturmflutwarnung, kein sturmbedingter Fährausfall – ich kann meine Rückreise also getrost in Angriff nehmen. Das ist gut. Das beruhigt mich noch weiter, gibt mir regelrecht gute Laune und lässt mich beinahe vergessen, warum ich überhaupt hergekommen bin. Ich schalte das Radio aus und esse in der jetzt angenehmen Stille noch eine Scheibe Toastbrot mit Honig. Anschließend beginne ich mit dem Aufbruch. Erst packe ich meine Sachen und deponiere sie neben der Tür, damit ich auch ja nichts vergesse, danach mache ich den Abwasch und bringe den Müll raus. Als Nächstes ziehe ich das Bett ab und werfe die kaum gebrauchte Wäsche zusammen mit den benutzten Handtüchern in den Wäschekorb. Es gehört hier eigentlich zum guten Ton, das Haus in dem Zustand zu verlassen, in dem man es vorgefunden hat, aber ich will jetzt nicht mehrere Stunden darauf warten, dass Waschmaschine und Trockner ihre Arbeit verrichtet haben. Ich will jetzt endlich nach Hause, denn da gehöre ich hin, dort habe ich die wichtigen Dinge zu erledigen. Quasi als eine Art Ablass lasse ich auf dem Küchentisch für den Hauswart eine Notiz und einen größeren Geldschein liegen, in dem ich kurz erkläre, wer hier gewesen und für den Saustall verantwortlich ist, und mit der Bitte, diesen ausnahmsweise einmal für mich aufzuräumen, da ich in dringenden Angelegenheiten vorzeitig abreisen müsse. Es gefällt mir, wie sehr sich der Lügengehalt dieser Aussage in Grenzen hält. Schließlich lasse ich überall wieder die Jalousien herunter, drehe die Heizkörper aus, ziehe mir Jacke und Schuhe an, binde mir das neue Tuch um den Hals, werfe vom Sicherungskasten aus einen letzten zufriedenen Blick in die Runde, dann stelle ich den Strom ab, und alles fällt zurück ins Dunkel, aus dem es
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