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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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mir steht ein älterer Herr mit einem Aktenkoffer, den er sich zwischen die Füße geklemmt hat, damit er nicht umfällt, während er sich sehr akkurat die Hände mit den Papierhandtüchern abtrocknet. Durch den Spiegel kann ich in meinem Rücken einen zweiten, etwas jüngeren Mann an den Pissoirs sehen, der dort – jede Wette – schon etwas länger steht und so tut, als würde er urinieren. Natürlich bemerke ich die abschätzenden Blicke, die er mir und dem Alten am Waschtisch über die Schulter zuwirft, sofort. Er fragt sich und uns damit, was geht, und wenigstens einen Moment lang fühle ich mich davon geschmeichelt.
    Dann aber fällt mein Blick im Spiegel auf mein eigenes Gesicht und ich sehe mir selbst in die Augen und dort nichts als Schlaflosigkeit, Unruhe, Erschöpfung und innere wie äußere Verwahrlosung. Ich bin nicht attraktiv, ich strahle nichts weiter als Krankheit und Zersetzung aus, selbst mein sportlicher Körper wirkt bereits wie total verfallen. Was wollen die beiden also von mir? Was sehen sie in mir? Einen Mitleidsfick? Die günstige Gelegenheit, ihrem sadistischen Trieb nachzugeben und einen Typen, der ohnehin schon unten in der Gosse angekommen ist, noch tiefer in den Dreck zu bumsen? Oder halten sie mich einfach nur für einen drogensüchtigen Stricher, der für den nächsten Schuss alles zu tun bereit ist, obwohl meine Reisetasche sie doch eigentlich eines Besseren belehren sollte? Und schon fühle ich mich nicht mehr begehrt, weil begehrenswert, sondern richtig elend. Mir ist zum Heulen zumute, und ich klatsche mir kaltes Wasser ins Gesicht, damit es keiner sieht. Ständig benehmen sich meine Gefühle wie in einer Achterbahn, und ich hasse sie – und mich – dafür.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragt der Geschäftsmanntyp da neben mir und macht eine Bewegung, als wolle er meine Hand ergreifen.
    Ich schrecke zurück, das Gesicht noch ganz nass, der Blick getrübt, und brülle ihm das Einzige, was ich in diesem Moment zu denken fähig bin, ins Gesicht: »Ich bin kein Stricher, du Schwein!«
    Im Laufschritt verlasse ich den Bahnhof und finde mich plötzlich auf der Mönckebergstraße wieder. Wie genau ich hierhergekommen bin, weiß ich da schon nicht mehr. Ich kann immer noch kaum etwas sehen, mein Blick ist total verschleiert, und mein Herz hämmert mir in der Brust. Mit dem Jackenärmel wische ich mir das Wasser aus dem Gesicht, doch das ist ziemlich müßig, denn über Hamburg geht gerade ein feiner, fieser, kalter Nieselregen nieder. Ich komme mir dumm vor, sehr dumm. Und im Weg stehe ich scheinbar auch, andauernd werde ich von Passanten angerempelt, und nicht jeder entschuldigt sich für sein rabiates Benehmen. Ich möchte schimpfen und schreien, diesem ganzen widerlichen Menschengekröse mit den Fäusten drohen – und muss ernüchtert feststellen, dass mir dafür die Energie fehlt. Selbst mein Kopf, sonst ein immer auf vollen Touren laufender Brutkasten für Gewaltfantasien jeglicher Art, gibt nichts weiter von sich als das dumpfe Brummen der Notstromversorgung.
    Mir ist kalt. Es schüttelt mich regelrecht. Ich weiß, ich muss irgendwohin, wo ich mich aufwärmen kann und geschützt bin, wo ich etwas Ruhe finde, bis mein Anschlusszug abgeht und ich Wyk auf Föhr, meinen sicheren Hafen, endlich erreiche.
    Es ist immer noch früher Vormittag, die Stadt um mich herum kommt erst allmählich in die Gänge. Die meisten Cafés haben noch gar nicht geöffnet, Feriensamstag hin oder her. Zum Glück kenne ich Hamburg noch von früher und weiß daher einen Ort, der bereits geöffnet hat und mir in meinem derzeitigen Zustand Asyl gewähren wird. Das hat er früher schon getan, nach viel harmloseren Geschichten. Wenn es überhaupt jemals eine mögliche Oase der Ruhe für mich gegeben hat, dann ist es dieses Café.
    Erleichtert raffe ich mein Bündel und gehe los. Ich muss einmal ganz um den Bahnhof herum, um zur Langen Reihe zu kommen, doch einmal in Sichtweite dieser altehrwürdigen Straße schreite ich schon wie befreit aus.
    Nach Hamburg kam ich damals, um zu studieren, ein etwas durchwachsenes Abitur in der Tasche und einen Haufen hochfliegender Pläne im Kopf, zu denen zu stehen ich mich noch nicht so recht traute. Also schrieb ich mich für einen Lehramtsstudiengang ein, Deutsch und Erdkunde – und wusste nach nicht einmal einer Woche, die völlig falsche Wahl getroffen zu haben. Weder interessierten mich die beiden Fächer wirklich noch übte die Aussicht, am Ende dieser Ausbildung den

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