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Die unsicherste aller Tageszeiten

Die unsicherste aller Tageszeiten

Titel: Die unsicherste aller Tageszeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Pregel
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zurück in unsere jeweilige Dunkelheit, aus der wir kurz zuvor aufgetaucht waren. In dieser Nacht aber nestelte er lange an seinem Hosenknopf herum, als zitterten seine Finger und er bekäme ihn deswegen nicht durch das Loch gesteckt. Anstatt die Gelegenheit zu nutzen und mich zu verdünnisieren, trat ich wieder näher an ihn heran und half ihm beim Zuknöpfen. Das ließ er sich sehr gern gefallen, und kaum war ich fertig, da griff er, als hätte er nur auf diesen einen Moment gewartet, nach meinen kalten Händen, hielt sie in seinen verschwitzten und quasselte plötzlich drauflos, wie ein Wasserfall, wie ein Dammbruch.
    »Ich wünschte, das könnte ewig so weitergehen mit uns«, sagte er und versuchte, mir tief in die Augen zu schauen. »Das macht so viel Spaß, so sollte das Leben sein. Leider sind unsere Ferien hier bald vorbei. In vier Tagen müssen wir zurück. Aber ich reise viel, bin IT-Spezialist, in Bochum. Die Kunden unserer Firma sitzen im gesamten Bundesgebiet, ein paar auch in Berlin. Ich bin regelmäßig immer für ein paar Tage in Berlin. Wenn du mir deine Nummer, deinen Namen und deine Adresse gibst, dann könnte ich dich das nächste Mal dort besuchen. Oder du besuchst mich in meinem Hotel. Weißt du, ich hab dich echt gern. Hätte ich dich doch nur vor fünfzehn, zwanzig Jahren schon getroffen …«
    Das war lächerlich, da wäre ich ein Kleinkind gewesen, er hätte keinen Blick für mich gehabt. Aber ich kam gar nicht dazu, ihm das zu sagen, er erstickte mich nun beinahe in einer klammerartigen Umarmung und plapperte munter weiter:
    »Wir kommen jedes Jahr im Herbst nach Föhr. Es ist immer so schön hier. Aber dieses Jahr ist es am schönsten gewesen. Wegen dir. Und auch wegen meinem Sohn. Mein Ältester hat hier nämlich gerade noch einmal seinen Geburtstag gefeiert. Er ist siebzehn geworden. Obwohl er dazu dieses Mal gar keine Lust hatte, nur rumgemault hat, lieber bei seinen Freunden in Bochum bleiben zu wollen, um mit ihnen zu feiern, obwohl er steif und fest behauptet hat, zu alt für so einen blöden Familienurlaub zu sein, hat er sich doch zuletzt noch einmal vom Zauber der Insel, seiner Kindheit einfangen lassen. Seit ein paar Tagen ist er richtig fröhlich und ausgelassen und lächelt nur noch still vor sich hin. Er treibt sich zwar mehr denn je alleine rum, aber wenn er abends nach Hause kommt, ist er so ausgeglichen wie seit Jahren nicht mehr. Seit er in die Pubertät kam, wenn ich es recht bedenke. Meine Frau glaubt, er hat wohl eine Freundin, und ich glaube das langsam auch, auch wenn er sich dazu nicht äußern will. Er heißt Tim und ist ein toller Junge, sportlich, gut in der Schule, immer freundlich. Einfach gut erzogen, wenn ich das mal so sagen darf. Ursprünglich hatten wir ihn Tammo nennen wollen, weil das so schön Friesisch klingt. Aber das ist kein Vorname für das Ruhrgebiet, also haben wir uns für Tim entschieden.«
    »Ich muss jetzt langsam los«, entwand ich mich seiner bedrückenden Umarmung. Mir war, als bekäme ich plötzlich gar keine Luft mehr. »Mir wird kalt«, versuchte ich das zu kaschieren, »und ich will mich nicht erkälten.«
    »Okay. Gut. Bis morgen dann?«
    »Ja, klar.«
    »Super.«
    Ich wollte endlich gehen, doch er hielt mich noch einmal auf.
    »Ich heiße Jürgen«, rief er mir hinterher. »Und du?»
    »Anton.«
    Dann machte ich mich aus dem Staub.
    Natürlich tauchte ich am nächsten Abend nicht mehr auf, und zwar nicht, weil ich den Sex mit Jürgen sattgehabt hätte. Sein Hunger, seine Gier nach meinem Fleisch, die die eines schlingenden Wolfes im Winter war, hatten mich Nacht für Nacht erneut angemacht. Aber selbst jemand wie ich, der zur Kopflosigkeit neigt und nicht unbedingt bereit ist, aus seinen Fehlern zu lernen, weil das Begehen der Fehler zu aufregend ist, selbst ich bin an manchen Stellen ein gebranntes Kind und scheue deshalb das Feuer. So hatte ich mir geraume Zeit nach dem Karsten-Schock geschworen, niemals wieder eine Affäre mit einem verheirateten Mann anzufangen. Das ist es einfach nicht wert. Allein deshalb also musste ich jetzt, nachdem Jürgen den Geist aus der Flasche gelassen und seinen intimen Wunsch geäußert hatte, die Sache sofort und auf die brutaistmögliche Art und Weise abbrechen. Alles, was auf der Insel passiert, ist okay, solange es auf der Insel bleibt. Wenn Jürgen darüber hinaus sein Doppelleben fortführen wollte, so war das ganz allein seine Entscheidung, mit der ich nichts zu tun haben wollte. Warum sonst

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