Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
möglicherweise Rabbiner geworden, wenn sein eigener Vater nicht so früh gestorben wäre; zwischen zwanzig und dreißig war Andras’ Vater von einer Kette von Schicksalsschlägen heimgesucht worden, die gereicht hätten, so manchen zur Verzweiflung zu bringen. Dann hatte das Schicksal eine so grundlegende Kehrtwendung vollführt, dass jeder im Dorf der Ansicht war, Andras’ Vater müsse vom Allmächtigen ganz besonders bedauert oder begünstigt worden sein. Doch Andras wusste, dass alles Gute, was seinem Vater widerfahren war, das Ergebnis seiner harten Arbeit und schlichten Sturheit war.
»Es ist ein Segen, dass du nach Paris gehen kannst«, sagte sein Vater. »Besser, du kommst raus aus diesem Land, wo Juden sich wie Männer zweiter Klasse fühlen müssen. Ich kann dir allerdings versprechen, dass es nicht besser wird, wenn du fort bist, auch wenn wir hoffen wollen, dass es nicht schlimmer wird.«
Als Andras jetzt in einem verdunkelten Eisenbahnwaggon Richtung Westen fuhr, hallten diese Worte in seinem Kopf wider; er merkte, dass es noch eine andere Angst hinter den Ängsten gab, die er ausgesprochen hatte. Unwillkürlich dachte er an eine kürzlich gelesene Zeitungsmeldung über einen schrecklichen Zwischenfall einige Wochen zuvor in der polnischen Stadt Sandomierz: Mitten in der Nacht hatten Unbekannte Schaufenster im jüdischen Viertel eingeschlagen und in Papier gewickelte kleine Päckchen in die Geschäfte geworfen. Als die Ladeninhaber die Wurfgeschosse auspackten, entdeckten sie abgesägte Ziegenhufe. » Judenfüße « stand auf dem Papier.
In Konyár war noch nie etwas Vergleichbares geschehen; Juden und Nichtjuden lebten dort seit Jahrhunderten friedlich nebeneinander. Aber der Same war auch dort gesät, wie Andras wusste. In seiner Grundschule in Konyár nannten ihn seine Klassenkameraden Zsidócska, kleiner Jude; als sie gemeinsam zum Schwimmen gegangen waren, hatte er sich wegen seiner Beschneidung geschämt. Einmal hatten sie ihn festgehalten und versucht, ihm eine Scheibe Schweinewurst zwischen die zusammengebissenen Zähne zu schieben. Die älteren Brüder dieser Jungen hatten Tibor gequält, und als Mátyás zur Schule kam, lagen ihre jüngeren Geschwister bereits auf der Lauer. Wie würden diese Burschen aus Konyár, herangewachsen zu jungen Männern, die Nachrichten aus Polen aufnehmen? Was für Andras eine Gräueltat war, mochten sie als Gerechtigkeit oder Bestätigung auffassen. Er lehnte den Kopf gegen die kühle Fensterscheibe, blickte hinaus in die unbekannte Landschaft und war erstaunt, wie sehr sie der Tiefebene glich, wo er geboren war.
Der Bahnhof in Wien war großartiger als alles Vergleichbare, was Andras kannte. Die zehn Stockwerke hohe Fassade bestand aus Glasscheiben in einem Gitterwerk aus vergoldetem Eisen; die Träger waren mit Schnörkeln, Blumen und Engeln auf eine Weise verziert, die besser zu einem Boudoir als zu einem Bahnhof gepasst hätte. Andras stieg aus dem Zug und folgte dem Geruch von frisch gebackenem Brot bis zu einem Wägelchen, wo eine Frau mit einem weißen Häubchen salzbestreute Brezeln verkaufte. Doch sie wollte weder Pengő noch Franc annehmen. In ihrem eindringlichen Deutsch versuchte sie Andras zu erklären, was er tun müsse, und schickte ihn zum Geldwechselschalter. Die Schlange am Schalter wand sich bis um die Ecke. Andras schaute auf die Bahnhofsuhr, dann auf den Stapel Brezeln. Es waren acht Stunden vergangen, seit er die leckeren Sandwiches im Haus auf der Benczúr utca gegessen hatte.
Jemand klopfte Andras auf die Schulter, und als er sich umdrehte, erblickte er den Herrn vom Nyugati-Bahnhof, der Tibor seinen Schirm geliehen hatte, um Andras’ Reisepass zu retten. Der Mann trug einen grauen Reiseanzug und einen leichten Mantel; das stumpfe Gold einer Uhrenkette leuchtete auf seiner Weste. Er war groß und breitschultrig, das dunkle Haar wellenförmig von seiner hohen, kuppelförmigen Stirn zurückgekämmt. Er trug eine glänzende Aktentasche und eine Ausgabe von La Revue du Cinéma unterm Arm.
»Darf ich Ihnen eine Brezel schenken?«, fragte er. »Ich habe ein paar Schillinge.«
»Sie waren schon zu freundlich zu mir«, sagte Andras.
Doch der Mann trat vor und kaufte zwei Brezeln, und sie gingen zur nächsten Bank und setzten sich. Der Fremde zog ein Taschentuch mit eingesticktem Monogramm aus der Tasche und breitete es über seine Hosenbeine.
»Mir schmeckt eine frische Brezel besser als alles, was im Speisewagen angeboten wird«, sagte
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