Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
so alt und so gründlich betastet worden, dass die Abbildungen ineinander verschlungener Paare nur noch als silberne Geister sichtbar waren, und das auch nur, wenn die Karten in einem bestimmten Winkel zum Licht gehalten wurden. Was wusste Andras darüber hinaus vom Französischen – oder auch von Frankreich? Er wusste, dass das Land mit einer Seite ans Mittelmeer und mit einer anderen an den Atlantik grenzte. Er wusste ein wenig über die Truppenbewegungen und Schlachten im Großen Krieg. Natürlich kannte er die großen Kathedralen von Reims und Chartres; er kannte Notre-Dame de Paris und Sacré-Cœur, den Louvre. Aber das war alles, abgesehen von ein paar Kleinigkeiten. In den wenigen Wochen, die ihm zur Vorbereitung auf die Reise geblieben waren, hatte er einen altmodischen Sprachführer durchgearbeitet, billig erstanden in einem Antiquariat auf der Szent István körut. Das Buch musste aus der Zeit vor dem Großen Krieg stammen; es bot Übersetzungen für Sätze wie Wo kann ich ein Pferdegespann mieten? Oder Ich bin Ungar, aber mein Freund ist Preuße .
Am vergangenen Wochenende war Andras heim nach Konyár gefahren, um sich von seinen Eltern zu verabschieden. Bei einem Verdauungsspaziergang durch den Obstgarten hatte er plötzlich seinem Vater all seine Ängste gestanden. Er hatte eigentlich gar nichts sagen wollen; zwischen den Söhnen und ihrem Vater herrschte das stillschweigende Einverständnis, dass man sich als Ungar keinerlei Schwäche anmerken ließ, auch nicht in Krisenzeiten. Doch als sie zwischen den Apfelbäumen umhergingen und das kniehohe Gras zur Seite traten, war es aus Andras herausgebrochen. Warum, fragte er sich laut, sei ausgerechnet er unter all den Künstlern in der Pariser Ausstellung ausgesucht worden? Wie war das Zulassungsgremium der École Spéciale zu dem Schluss gekommen, dass gerade er diese Gunst verdient hatte? Selbst wenn seine Arbeiten gewisse Qualitäten besaßen – wer wollte denn sagen, dass er jemals wieder so etwas schaffen würde oder, wichtiger noch, dass er erfolgreich Architektur studieren könnte, ein völlig anderes Fach als alles, mit dem er sich bisher beschäftigt hatte? Bestenfalls, sagte er seinem Vater, sei er der Nutznießer falscher Hoffnungen, schlimmstenfalls ein schlichter Schwindler.
Sein Vater warf lachend den Kopf in den Nacken. »Ein Schwindler?«, sagte er. »Du, der mir mit acht Jahren Miklós Ybl vorgelesen hat?«
»Etwas zu mögen heißt noch lange nicht, auch gut darin zu sein.«
»Es gab eine Zeit, da studierten Männer Architektur, nur weil es ein edler Zeitvertreib war«, gab sein Vater zurück.
»Es gibt edlere Zeitvertreibe. Heilkunst beispielsweise.«
»Darin hat dein Bruder mehr Talent. Du hast ein anderes. Und jetzt hast du die Zeit und das Geld, um ihm nachzugehen.«
»Und was ist, wenn ich versage?«
»Ach was! Dann wirst du viel zu erzählen haben.«
Andras hob einen Ast vom Boden auf und schlug damit ins lange Gras. »Es kommt mir selbstsüchtig vor«, sagte er. »Auf Kosten von anderen in Paris zu studieren.«
»Glaub mir: Wenn ich es mir leisten könnte, würdest du auf meine Kosten fahren. Ich möchte nicht, dass du das als selbstsüchtig empfindest.«
»Was ist, wenn du dieses Jahr wieder eine Lungenentzündung bekommst? Das Sägewerk läuft nicht von allein.«
»Warum nicht? Ich habe einen Vorarbeiter und fünf gute Männer an den Sägen. Und Mátyás ist nicht weit, wenn ich noch mehr Hilfe brauche.«
»Mátyás, diese kleine Krähe?« Andras schüttelte den Kopf. »Selbst wenn du ihn zu fassen bekommst, kannst du von Glück sagen, wenn er einen Handschlag tut.«
»Oh, ich könnte ihn schon ans Arbeiten bekommen«, sagte sein Vater. »Obwohl ich hoffe, dass es nicht nötig sein wird. Der kleine Taugenichts wird genug Mühe mit seinem Schulabschluss haben bei all den Torheiten, die er im letzten Jahr angestellt hat. Wusstest du, dass er sich einer Art Tanztruppe angeschlossen hat? Er tritt nachts in einem Club auf und verpasst morgens den Unterricht.«
»Ich hab’s gehört. Noch mehr Grund für mich, nicht so weit weg zu studieren. Wenn er nach Budapest zieht, wird jemand auf ihn aufpassen müssen.«
»Es ist nicht deine Schuld, dass du nicht in Budapest studieren kannst«, sagte sein Vater. »Es sind die Umstände. Davon kann ich ein Lied singen. Aber man macht, was man kann mit dem, was man hat.«
Andras verstand, was sein Vater meinte. Er hatte das jüdische theologische Seminar in Prag besucht und wäre
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