Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
endlich über die Grenze nach Frankreich fuhr, hatte Andras das Gefühl, stundenlang den Atem angehalten zu haben.
Sie kamen durch hügelige Landschaft und kleine Fachwerkdörfer, dann durch die unendlichen flachen Vororte und schließlich durch die äußeren Arrondissements von Paris selbst. Es war zehn Uhr nachts, als sie den Bahnhof erreichten. Mit seinem Lederranzen und seiner Künstlermappe kämpfte sich Andras durch den Gang und hinaus auf den Bahnsteig. Auf der gegenüberliegenden Mauer prangten auf einem fünfzehn Meter hohen Wandbild ernste junge Soldaten beim Aufbruch in den Großen Krieg, die Augen ernst vor Entschlossenheit. An einer anderen Mauer hingen mehrere Banner, auf denen eine jüngere Schlacht dargestellt war – in Spanien, wie Andras aus den Uniformen der Soldaten schloss. Unverständliche Worte knisterten in den Lautsprechern über ihm; auf dem Bahnsteig überlagerten das tiefe Summen des Französischen und das geträllerte Italienisch die harscheren Tonfälle von Deutsch, Polnisch und Tschechisch. Andras suchte die Menge nach einem jungen Mann in einem teuren Mantel ab, der nach jemandem Ausschau hielt. Er hatte weder um eine Beschreibung noch um ein Foto von József gebeten. Ihm war nicht in den Sinn gekommen, dass sie Probleme haben könnten, sich zu finden. Immer mehr Passagiere strömten auf den Bahnsteig, denen Pariser zur Begrüßung entgegenliefen, nur József tauchte nicht auf. Inmitten des Gewimmels erhaschte Andras einen Blick auf Zoltán Novak; eine Dame in einem pelzbesetzten Mantel und einem schicken Hut warf ihm die Arme um den Hals. Novak küsste die Frau und führte sie fort vom Zug, zwei Kofferträger folgten mit seinem Gepäck.
Andras holte seinen eigenen Koffer und die schwere Kiste für József ab. Er stand da und wartete, bis die Menschenmenge noch dichter wurde und sich dann allmählich lichtete. Noch immer trat kein forscher junger Mann auf ihn zu, um ihn einem Leben in Paris zuzuführen. Andras setzte sich auf die Holzkiste, ihm war plötzlich schwindelig. Er musste irgendwo übernachten. Er musste essen. In wenigen Tagen sollte er an der École Spéciale erscheinen und sein Studium aufnehmen. Er schaute hinüber zu den Türen mit der Aufschrift SORTIE , zu den Lichtern von Autos, die auf der Straße vorbeifuhren. Eine Viertelstunde verstrich, dann die nächste, ohne eine Spur von József Hász.
Andras griff in seine Brusttasche und zog die Karte heraus, auf welche die ältere Frau Hász die Adresse ihres Enkels notiert hatte. Mehr Angaben besaß er nicht. Für ein paar Francs rekrutierte er einen walrossgesichtigen Kofferträger, der ihm half, sein Gepäck und die Kiste in ein Taxi zu wuchten. Andras nannte dem Fahrer Józsefs Adresse, und sie fuhren los in Richtung Quartier Latin. Während der rasanten Fahrt plauderte der Taxifahrer ununterbrochen in ausgelassenem Französisch, von dem Andras kein Wort verstand.
Er bekam kaum mit, an welchen Sehenswürdigkeiten sie auf dem Weg zu József Hász vorbeikamen. Nebelschwaden zogen durch das Licht der Straßenlaternen, nasses Laub schlug gegen die Scheiben des Taxis, goldbeleuchtete Gebäude huschten hastig vorbei; die Straßen waren voll von samstagabendlichen Nachtschwärmern, Männern und Frauen, die lässig die Arme umeinanderlegten. Das Taxi raste über die Seine, und kurz schwelgte Andras in der Vorstellung, sie überquerten die Donau, er sei zurück in Budapest, und in kurzer Zeit wäre er zu Hause in der Wohnung auf der Hársfa utca, wo er die Treppen emporsteigen und zu Tibor ins Bett krabbeln könnte. Doch dann hielt der Wagen vor einem Haus aus grauem Stein, und der Fahrer stieg aus, um das Gepäck auszuladen. Andras suchte nach weiterem Geld in seiner Tasche. Der Fahrer tippte sich an die Mütze, nahm die von Andras angebotenen Francs entgegen und sagte etwas, das wie das ungarische Wort bocsánat klang – es tut mir leid –, das er jedoch später als bonne chance entzifferte. Dann war das Taxi weg, und Andras blieb allein auf einem Bürgersteig des Quartier Latin zurück.
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3.
Das Quartier Latin
DAS GRAUE SANDSTEINHAUS, in dem József Hász wohnte, hatte sechs Stockwerke mit hohen Fenstern und kunstvolle schmiedeeiserne Balkone. Aus dem obersten Stock schmetterte Hot Jazz hinunter, Kornett, Klavier und Saxofon duellierten sich direkt hinter den leuchtenden Fenstern. Andras ging zur Tür und wollte klingeln, doch sie war nicht verschlossen; im Vestibül stand eine Gruppe Mädchen in eng
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