Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
sprach Ungarisch, und niemand schien zu bemerken, dass ein Neuer in ihrer Mitte war. Unter anderen Umständen wäre Andras vielleicht aufgestanden und hätte sich zu ihnen gesellt, doch er war so müde, dass er sich unter seiner Decke kaum umdrehen konnte. Das Sofa, ein schlecht gepolstertes Möbel mit hölzernen Armlehnen, schien als Folterinstrument konstruiert zu sein. Als die Männer endlich zu Bett gegangen waren, tauchten Ratten hinter der Wandvertäfelung auf, um ihren nächtlichen Aufräumarbeiten nachzugehen; sie liefen den Flur der Länge nach hinunter und stahlen das Brot, das Andras vom Mittagessen aufbewahrt hatte. Der Gestank von vermodernden Schuhen, ungewaschenen Männern und Bratfett verfolgte ihn bis in die Träume. Als er die Augen wieder öffnete, war er vollkommen zerschlagen und beschloss mürrisch, dass eine Nacht in diesem Loch mehr als genug war. Er würde an diesem Vormittag ins Quartier Latin gehen und beim erstbesten Haus klingeln, das ein Zimmer zur Miete anbot.
Auf der Rue des Écoles entdeckte er in der Nähe eines kleinen gepflasterten Platzes mit ausladender Kastanie ein Gebäude mit dem inzwischen vertrauten Schild im Fenster: chambre à louer . Andras klopfte an die rot gestrichene Tür, wartete mit verschränkten Armen und versuchte, die Nervosität in seiner Brust zu ignorieren. Die Tür ging auf, und zum Vorschein kam eine kleine, untersetzte Frau mit dichten Augenbrauen, die den Mund zu einem finsteren Ausdruck verzogen hatte; auf dem Nasenrücken ruhte ein schweres schwarzes Brillengestell, hinter dem ihre Augen winzig und fern wirkten, als gehörten sie zu einem anderen, kleineren Menschen. Ihr drahtiges graues Haar war an einer Seite platt gedrückt, als hätte sie gerade in einem Ohrensessel geschlafen. Sie stützte die Faust in die Hüfte und glotzte Andras an. Er nahm all seinen Mut zusammen, brachte in eindringlichen, falsch betonten Worten sein Anliegen vor und wies auf das Schild im Fenster.
Die Concierge verstand. Sie winkte ihn in einen schmalen gefliesten Korridor und führte ihn ein spiralförmiges Treppenhaus hinauf. An der Decke befand sich ein Oberlicht. Als es nicht höher ging, leitete sie ihn den Flur hinunter zu einer langen, schmalen Dachstube mit einem Eisenbett an der Wand; dazu eine Waschschale auf einem Holzständer, einen kleinen Bauerntisch und einen grünen Holzstuhl. Zwei Mansardenfenster gingen auf die Rue des Écoles; eins war geöffnet, und auf der Fensterbank lag ein leeres Vogelnest mit den Schalen von drei blauen Eiern. Die Concierge zuckte mit den Schultern und nannte den Preis. Andras kramte im Kopf nach französischen Zahlwörtern und halbierte die Summe. Die Concierge spuckte auf den Boden, stampfte mit dem Fuß auf und beschimpfte Andras auf Französisch. Dann nahm sie sein Angebot an.
Und so begann es, sein Leben in Paris. Er hatte eine Bleibe, einen Messingschlüssel, eine Aussicht. Zum Blick aus seinem Fenster gehörten wie bei József das Panthéon und der blasse Kalksteinuhrenturm von St.-Étienne-du-Mont. Auf der anderen Straßenseite war das Collège de France, und schon bald würde er lernen, es als Wegweiser zu seiner Wohnung zu benutzen: 34 rue des Écoles, en face de Collège de France . Am Ende des Häuserblocks befand sich die Sorbonne. Und weiter fort, am Boulevard Raspail, war die École Spéciale d’Architecture, wo am Montag der Unterricht beginnen würde. Nachdem Andras das Zimmer gründlich geputzt und seine Kleidung in eine Apfelkiste gepackt hatte, zählte er sein Geld und erstellte eine Einkaufsliste. Er ging einkaufen und besorgte ein Glas mit roter Johannisbeermarmelade, eine Packung billigen Tees, eine Tüte Zucker, ein Sieb, Walnüsse, ein kleines braunes Butterfass, ein Baguette und als einzigen Luxus ein kleines Stückchen Käse.
Was war es für eine Wohltat, den Schlüssel ins Schloss zu schieben und die Tür zu seinem eigenen Reich zu öffnen! Andras packte die Einkäufe auf die Fensterbank und breitete seine Zeichenutensilien auf dem Tisch aus. Er setzte sich, spitzte einen Bleistift mit dem Messer und skizzierte den Blick aufs Panthéon auf einer Blanko-Postkarte. Auf die Rückseite schrieb er seine erste Mitteilung aus Paris: Lieber Tibor, ich bin da! Ich habe eine furchtbare Dachkammer gefunden; etwas Besseres habe ich gar nicht erhofft. Am Montag fängt die Schule an. Hurra! Liberté, égalité, fraternité! Alles Liebe, Andras. Ihm fehlte nur eine Briefmarke. Er dachte, er könnte sich eine von der
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