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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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folgen, und sie sich kaum um ihn kümmerten, verspürte er den deutlichen Wunsch, sie näher kennenzulernen. Als sie sich gemeinsam die Atelierlisten ansahen, freute er sich zu lesen, dass sie alle derselben Gruppe zugeteilt worden waren.
    Nach kurzer Zeit begaben sich die Studenten nach draußen in den ummauerten Hof, wo hohe Bäume ihre Schatten auf Reihen von Holzbänken warfen. Ein Student trug ein Podest nach vorn zu einem kleinen gepflasterten Abschnitt, die anderen nahmen auf den Bänken Platz. Von der anderen Seite der Hofmauern drang das Brausen und Summen des Verkehrs herüber. Doch Andras war hier, saß neben drei Männern, deren Namen er kannte; er gehörte zu diesen Studenten, er gehörte auf diese Seite der Mauer. Er versuchte, dieses Gefühl bewusst wahrzunehmen, und stellte sich vor, Tibor und Mátyás davon zu schreiben. Doch noch ehe er sich eine Formulierung überlegen konnte, öffnete sich eine Tür an der Gebäudeseite, und ein Mann trat nach draußen. Er sah aus, als wäre er einmal Hauptmann beim Militär gewesen; er trug einen langen grauen Mantel mit rotem Futter, einen kurzen dreieckigen Bart und einen mit Wachs gezwirbelten Schnäuzer. Seine schmalen Augen funkelten hinter einem Kneifer. In einer Hand hielt er einen Gehstock, in der anderen etwas, das wie ein unbearbeiteter grauer Stein aussah. Trotz des mit Sicherheit großen Gewichts des Brockens durchquerte dieser Mann den Hof mit aufrechtem Rücken und kriegerisch vorgerecktem Kinn. Er ging auf das Podest zu und legte den Stein mit einem dumpfen Laut darauf ab.
    »Attention!« , brüllte er.
    Die Studenten verstummten, schauten auf und drückten den Rücken durch, wie von unsichtbaren Fäden gezogen. Lautlos schlüpfte ein großer junger Mann in einem abgetragenen Arbeitshemd neben Andras auf die Bank und neigte den Kopf an sein Ohr.
    »Das ist Auguste Perret«, sagte der Fremde auf Ungarisch. »Er war mein Lehrer, und jetzt ist er Ihrer.«
    Andras schaute den jungen Mann überrascht und erleichtert an. »Sie haben die Notiz in meinem Päckchen geschrieben«, sagte er.
    »Hören Sie zu«, flüsterte der Mann, »ich übersetze.«
    Auguste Perret auf dem Podium hob den unbehauenen Stein mit beiden Händen hoch und stellte eine Frage. Laut Andras’ Übersetzer lautete sie, ob jemand wisse, um was für ein Baumaterial es sich handele. Sie vielleicht, hier vorn? Beton, ja, das sei richtig. Stahlbeton, genau genommen. Wenn die Studenten ihre fünf Jahre an dieser Schule abgeschlossen hätten, wüssten sie alles über Stahlbeton, was es darüber zu wissen gebe. Warum? Weil er die Zukunft der modernen Stadt sei. Er würde Bauwerke ermöglichen, die an Höhe und Kraft alles überträfen, was bisher gebaut worden sei. Höhe und Kraft, ja; und Schönheit. Hier an der École Spéciale ließen sie sich jedoch nicht von Schönheit verführen , das überließe man gerne den privilegierten Söhnen an dieser anderen Schule . Jene Schule sei eine Einrichtung für Lebemänner, ein Ort, wo junge Burschen mit der Kunst der dessinage herumspielten; an der École Spéciale interessierte man sich für wahre Architektur, für Gebäude, in denen man wohnen konnte. Wenn die Entwürfe darüber hinaus auch noch schön seien, umso besser; doch sollten sie schön in einer Art sein, die zum Mann auf der Straße passte. Hier fänden sich nur jene Menschen wieder, die Architektur für eine demokratische Kunst hielten; die glaubten, dass Form und Funktion gleichermaßen wichtig seien; denn die Absolventen der École Spéciale, die Avantgarde, hätten die Fesseln aristokratischer Tradition abgeworfen und benutzten ihren eigenen Kopf. Jeder, der ein Versailles bauen wolle, solle sich nun erheben und durch jenes Tor dort gehen. Die andere Schule sei nur drei Métrostationen entfernt.
    Der Professor hielt inne, schleuderte seinen Arm in Richtung des Tors, den Blick auf die Studentenreihen gerichtet. » Non?« , rief er. » Pas un? «
    Niemand regte sich. Wie eine Statue stand Auguste Perret vor ihnen. Andras hatte das Gefühl, eine Figur auf einem Gemälde zu sein, bis in alle Ewigkeit gelähmt von Perrets Herausforderung. In den kommenden Jahrhunderten würde das Bild in Museen bewundert werden. Er würde für alle Zeiten auf der Bank sitzen, leicht diesem Mann mit dem Mantel und dem weißen Bart zugeneigt, diesem General unter den Architekten.
    »Er hält diese Rede jedes Jahr«, flüsterte der Ungar neben Andras. »Als Nächstes spricht er von der Verantwortung für die

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