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Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)

Titel: Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Orringer
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Concierge leihen; um die Ecke war ein Briefkasten. Als er sich genau zu erinnern versuchte, wo der Kasten stand, kam ihm stattdessen ein Umschlag in den Sinn, ein Wachssiegel, ein Monogramm. Er hatte das Versprechen vergessen, das er der älteren Frau Hász gegeben hatte. Ihr Schreiben an C. Morgenstern auf der Rue de Sévigné wartete noch immer in seinem Koffer. Andras zog ihn unter dem Bett hervor, befürchtete schon, der Brief sei verschwunden, doch er steckte nach wie vor in dem Fach, in den er ihn geschoben hatte. Das Wachssiegel war unversehrt. Andras lief hinunter zur Wohnung der Concierge und bat mithilfe seines Sprachführers und einer Reihe eindringlicher Gesten um zwei Briefmarken. Nach kurzer Suche entdeckte er den boîte aux lettres und schob die Karte an Tibor hinein. Dann stellte er sich die Freude eines silberhaarigen Herrn vor, wenn die Post am nächsten Tag zugestellt würde, und warf den Brief von Frau Hász in das anonyme Dunkel des Kastens.

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    4.
École Spéciale
    UM ZUR SCHULE ZU GELANGEN, musste Andras den Jardin du Luxembourg durchqueren, vorbei an dem kunstvollen Palais, dem Brunnen und den Beeten voll später Löwenmäulchen und Ringelblumen. Im Brunnen ließen Kinder schnittige Miniaturschiffchen segeln, und Andras dachte mit leicht empörtem Stolz an die Sperrholzboote zurück, die er und seine Brüder auf dem Mühlteich von Konyár hatten schwimmen lassen. Er sah grüne Bänke und gestutzte Linden, ein Karussell mit bunt bemalten Pferdchen. Auf der anderen Seite des Parks war eine Ansammlung von kleinen Hütten, die wie akkurate braune Puppenhäuser aussahen; als Andras näher kam, hörte er das Summen von Bienen. Ein verschleierter Imker beugte sich zu einem der Stöcke vor, seine qualmende Dose schwenkend.
    Andras nahm die Rue de Vaugirard, vorbei an den Künstlerbedarfsgeschäften, den schmalen Cafés und einer Grundschule, wo es vor kleinen Mädchen nur so wimmelte, dann bog er in den breiten Boulevard Raspail mit seinen stattlichen Wohnhäusern ab. Er fühlte sich schon ein wenig mehr wie ein Pariser als bei seiner Ankunft. Er hatte seinen Zimmerschlüssel an einer Schnur um den Hals gehängt und eine Ausgabe von L’Œuvre unterm Arm. Seinen Schal hatte er so geknotet, wie er es bei József Hász gesehen hatte, und den Riemen seines Lederranzens trug er diagonal über der Brust, so wie es die Studenten im Quartier Latin machten. Sein Leben in Budapest – seine Stellung bei Vergangenheit und Zukunft, seine Wohnung auf der Hársfa utca, das vertraute Geräusch der Straßenbahnglocke – schien auf einmal zu einem anderen Universum zu gehören. In einem unerwarteten Anfall von Heimweh stellte er sich vor, wie Tibor an ihrem angestammten Tisch vor ihrem Lieblingscafé saß, in Sichtweite das Denkmal von Jókai Mór, dem berühmten Autor, der den Österreichern bei der Revolution 1848 entkommen war, indem er die Kleider seiner Frau angezogen hatte. Weiter östlich, in Debrecen, kritzelte Mátyás vermutlich gerade irgendeinen Unsinn in sein Schulheft, während seine Klassenkameraden lateinische Deklinationen büffelten. Und was war mit seinen Eltern? Andras wollte ihnen am Abend schreiben. Vorsichtig betastete er die silberne Uhr in seiner Tasche. Sein Vater hatte sie vor seiner Abreise aufarbeiten lassen; es war ein schönes altes Stück, die Ziffern in spinnwebartigen Zeichen geschrieben, die Zeiger aus einem tiefblauen, schillernden Metall. Das Uhrwerk lief noch so gut wie zu Zeiten von Andras’ Großvater. Er konnte sich erinnern, auf dem Knie seines Vaters gesessen und die Uhr aufgezogen zu haben, immer darauf achtend, die Feder nicht zu überdehnen; sein Vater, Glücks-Béla, hatte es als kleiner Junge genauso gemacht. Und jetzt befand sich diese Uhr im Paris des Jahres 1937, in einer Zeit, in der man zwölfhundert Kilometer an einem Tag zurücklegen konnte, eine telegrafierte Nachricht über das Kabelnetz innerhalb von Minuten am Ziel war und ein Funksignal noch viel schneller. Was für eine Zeit, um Architektur zu studieren! Die Gebäude, die Andras entwerfen wollte, würden wie Schiffe sein, in denen die Menschheit zum Horizont des zwanzigsten Jahrhunderts segelte, von der Landkarte herunter ins neue Jahrtausend.
    Andras merkte, dass er am Tor der École Spéciale vorbeigegangen war und umkehren musste. Junge Männer drängten durch zwei hohe blaue Türen in ein graues neoklassizistisches Gebäude. Der Name der Schule war in den Stein des Gesimses gemeißelt.

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