Die unsichtbare Brücke: Roman (German Edition)
Studenten, die nach einem kommen.«
»Les étudiants qui viennent après vous« , fuhr der Professor fort, und der Ungar übersetzte weiter. Diese Studenten würden darauf angewiesen sein, dass die älteren Semester fleißig waren. Wenn sie das nicht wären, würden auch ihre Nachfolger durchfallen. Denn jeder würde von denen unterrichtet, die vor ihm da waren; an der École Spéciale würde man Gemeinschaft lernen, denn die enge Zusammenarbeit mit anderen gehöre zum Leben des Architekten. Ein jeder möge seine eigene Vision haben, doch ohne die Unterstützung der Kollegen sei die Vision nicht das Papier wert, auf das sie gezeichnet sei. An dieser Schule habe Émile Trélat Robert Mallet-Stevens unterrichtet, Mallet-Stevens wiederum sei der Lehrer von Fernand Fenzy gewesen, Fernand Fenzy bildete Pierre Vago aus, und Pierre Vago würde jetzt sie unterweisen.
Bei diesen Worten zeigte der Professor ins Publikum, und der junge Mann neben Andras stand auf und verbeugte sich höflich. Er schritt vor die Versammelten, nahm seinen Platz neben Professor Perret auf dem Podium ein und sprach seine Studenten auf Französisch an. Pierre Vago. Der Mann, der gerade für Andras übersetzt hatte – dieser zerknitterte junge Bursche im tuscheverschmierten Arbeitshemd –, das war der P. Vago von Andras’ Stundenplan. Sein Atelierleiter. Sein Professor. Ein Ungar. Plötzlich wurde Andras schwindelig. Zum ersten Mal hatte er das Gefühl, an der École Spéciale bestehen zu können. Er konnte sich kaum auf das konzentrieren, was Vago mit seinem leichten Akzent in elegantem Französisch sagte. Vago war tatsächlich derjenige gewesen, der die ungarische Mitteilung in Andras’ Umschlag verfasst hatte. Andras kam der Gedanke, dass Vago wohl auch derjenige war, dem er seine Anwesenheit hier zu verdanken hatte.
»Hey«, sagte Rosen und zupfte an Andras’ Ärmel. »Regardes-toi!«
Vor Aufregung hatte Andras Nasenbluten bekommen. Rote Tropfen leuchteten auf seinem weißen Hemd. Polaner sah ihn besorgt an und reichte ihm ein Taschentuch; Ben Yakov wurde blass und schaute zur Seite. Andras nahm das Tuch entgegen und drückte es auf seine Nase. Rosen gab ihm zu verstehen, er solle den Kopf in den Nacken legen. Einige Studenten drehten sich um, wollten sehen, was vor sich ging. Andras saß da und blutete ins Taschentuch, unbeeindruckt von den Gaffern und glücklicher, als er je im Leben gewesen war.
Später am selben Tag, nach der Versammlung, als Andras’ Nasenbluten aufgehört und er Polaner sein eigenes sauberes Taschentuch für das vollgeblutete gegeben hatte, nach dem ersten Treffen der Ateliergruppen und nachdem er mit Rosen, Polaner und Ben Yakov Adressen ausgetauscht hatte, saß Andras in Vagos überfülltem Arbeitszimmer auf einem Holzhocker vor dem Zeichenbrett. An den Wänden hingen Skizzen und gedruckte Aufrisse, schwarz-weiße Aquarelle von wunderschönen, unmöglichen Gebäuden, die maßstabsgetreue Wiedergabe einer Stadt, von oben gesehen. In einer Ecke lag ein Häufchen bekleckster Kleidung; ein verrosteter, verbogener Fahrradrahmen lehnte an der Wand. In Vagos Bücherregalen fanden sich antiquarische Bücher neben Hochglanzmagazinen, ein Teekessel, ein kleines Holzflugzeug und eine dünnbeinige, aus Drahtresten gefertigte Mädchenskulptur. Vago lehnte sich auf seinem Drehstuhl zurück, die Finger hinter dem Kopf verschränkt.
»So«, sagte er zu Andras. »Da sind Sie also, frisch aus Budapest. Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Ich wusste nicht, ob Sie es so kurzfristig schaffen würden. Aber ich musste es versuchen. Das ist unmenschlich, diese Auflagen, wer was wann und wie studieren kann. Das ist kein Land für Männer wie uns.«
»Aber – bitte entschuldigen Sie – sind Sie denn Jude, Herr Professor?«
»Nein, ich bin katholisch. Aufgewachsen in Rom.« Vago rollte das R wie ein Italiener.
»Was kümmert es Sie dann, Herr Professor?«
»Sollte es mich nicht kümmern?«
»Vielen ist’s egal«, sagte Andras.
Vago zuckte mit den Schultern. »Manchen nicht.« Er schlug einen Ordner auf seinem Schreibtisch auf. Darin lagen Reproduktionen von Andras’ farbigen Titelbildern für Vergangenheit und Zukunft : Linolschnitte von einem jüdischen Sofer beim Schreiben einer Thorarolle, von einem Vater mit seinen Söhnen in der Synagoge, von einer Frau, die zwei schlanke Kerzen entzündet. Andras sah die Arbeiten jetzt wie zum ersten Mal. Die Themen schienen ihm sentimental, die Komposition kindlich und berechenbar.
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