0669 - Blackwood, der Geistermann
Der Wind war wie ein böses Tier, als er gegen das Gesicht des jungen Mädchens blies.
Denise spürte es nicht. Sie war wie in Trance die Treppe hochgestiegen und anschließend auf das Dach des sechsstöckigen Gebäudes geklettert. Bis zur Kante waren es nur wenige Schritte gewesen, und jetzt stand sie am Rand.
Dezember in London!
Das war überhaupt nicht zu vergleichen mit den Monaten des Sommers. Zu dieser Jahreszeit drückte die Kälte, da regnete oder schneite es, aber der Wind war immer vorhanden.
Wie auch jetzt, wo er in scharfen Böen gegen den schmalen Körper anwütete, der in einen viel zu dünnen Staubmantel gehüllt war. Er hatte ungefähr die gleiche Farbe wie das Gesicht des Mädchens, so bleich mit einer durchscheinenden Haut.
Groß zeichneten sich die Augen darin ab. Die blassen Lippen zitterten, auf den Wangen lagen die feuchten Flecke der Tränen, die der Wind noch nicht getrocknet hatte.
Denise stand da und starrte in die Tiefe. Die Lippen lagen aufeinander. Wenn sie Luft holte, dann nur durch die Nase.
Langsam senkte sie den Kopf.
Unter ihr lag die Schlucht. Oben noch dunkel, nach unten hin immer heller werdend. Keine natürliche Helligkeit, denn an diesem Abend schoben sich die Fahrzeuge mit ihren eingeschalteten Scheinwerfern als lange Schlange durch die Straße.
Denise schwankte leicht. Diese Bewegung übertrug sich auf ihr Sichtvermögen. Sie sah die Fahrzeuge nicht normal, sondern wie eine nie abreißende Wellenbewegung durch den künstlichen Canyon gleiten. An manchen Hausfassaden glänzten die Leuchtreklamen als ein buntes Spektrum, das sich mit dem Licht der Weihnachtsbeleuchtung mischte, denn ein Teil der großen Stadt an der Themse erstrahlte in einem vorweihnachtlichen Glanz.
Daran dachte Denise nicht, auch wenn sie der hohe Tannenbaum eines sehr nahe stehenden Weihnachtsmarktes grüßte, als wollte er ihr noch einen letzten Halt in ihrem jungen Leben geben.
Die andere Kraft war stärker!
Monatelang hatte sie gebohrt und ihre Seele zerfressen. Sie hatte vom großen Glück berichtet, das Denise erreichen würde, wenn alles vorbei war.
Vorbei…
Denise dachte an dieses eine Wort. Alles vorbei, das Alte zurücklassend und einfach in das Neue hineinspringen. Die Vergangenheit abstreifend wie eine abgestorbene Haut und nur auf die Stimme hören, die den Tod befahl.
Sie lockte mit dem Jenseits…
Wunderschön, herrlich, Farben und Glück, etwas, das ewig war und nie vergehen würde.
Denise stand am Rand, das Gesicht dem Wind zugedreht, als könnte er ihr eine Botschaft bringen.
Wer wohl alles zur Beerdigung kommen würde? Die Clique bestimmt, für die war es Ehrensache.
Auch die anderen aus der Klasse? Sie hatte sie einige Male darauf angesprochen und sich auslachen lassen müssen. Eine Beerdigung hatte ihr niemand abgenommen.
Nicht mit siebzehn…
Sie drückte ihren Körper noch weiter vor. Geräusche drangen aus der Schlucht zu ihr hoch. Hupsignale, sogar das ferne Läuten einer Glocke. Keine Stimmen, dazu befand sich Denise einfach zu weit entfernt. Das war hier eine andere Welt, in die Stimmen nicht hineingepasst hätten. Die Welt des Schauders, die Welt des…
Denise dachte nicht mehr weiter. Sie stand an der Dachkante wie ein Strohhalm, der jeden Augenblick umkippen konnte.
Nein, sie wollte nicht mehr zurück. Es war auch so einfach. Eine winzige Bewegung nach vorn, dann würde sie schweben. Einfach hinwegfliegen in die andere Welt.
Dort wartete man auf sie.
Andere Freunde, die den Weg bereits vor ihr gegangen waren. Sie riefen ihr zu, den letzten Schritt zu gehen, den sie selbst schon vor langer Zeit gemacht hatten.
Denise schaute in die Höhe. Über ihr bildeten die dunklen Abendwolken ein unheimliches Muster.
Der Wind trieb sie aufeinander zu. Sie prallten lautlos zusammen, nahmen dabei wieder andere Formen an, drifteten auseinander, gerieten zu fremd wirkenden Figuren, die ihr vorkamen, als würden sie aus Teilen einer Teufelsfratze bestehen.
Der Satan rief sie…
»Spring!«, schien er zu sagen. »Spring endlich!«
»Jaa…!«, brüllte Denise und machte einen Satz nach vorn, wie in einen Pool.
Da war aber kein Wasser, das sie auffing, keine federnde Matte, keine dicken Betten, keine Hände, nur die Leere.
Sie raste hinab!
Und sie hörte das schaurige Gelächter in ihren Ohren gellen, das der Wind aus der tiefsten Hölle holte, damit es sie umfangen konnte. Es war kein menschliches Lachen mehr, so konnten Menschen einfach nicht reagieren, dieses
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