Die unsichtbare Handschrift
Vielleicht konnte sie ein wenig Eichenrinde schneiden. An diesem Tag hoffte sie jedoch eher darauf, ein kleines Stück gebrannten Ziegel oder gar einen rostigen Hufnagel zu finden. Groß war diese Hoffnung nicht, aber es fehlte mal wieder an allem, um frische Tinte zu kochen. Und das war nun einmal Esthers Aufgabe. Zwar war es üblich, dass jeder Schreiber seine Tinte selber anmischte, doch Kaspar hatte kein glückliches Händchen dafür. Mal geriet ihm die Tinte zu blass, mal zu zäh. Es war auch schon passiert, dass sich die mühevoll auf das Pergament gebrachten Buchstaben kurze Zeit später auflösten, weil er wieder einmal das rechte Mischungsverhältnis vergessen hatte.
Den derben Wollstoff ihres Umhangs fest um die Schultern gezogen, hielt sie mit einer Hand die Kapuze, die der Ostwind ihr vom Kopf zu fegen drohte. Der Schnee knirschte unter ihren Sohlen, der Ost pfiff ihr ins Ohr und trieb ihr Tränen in die Augen, die sie sich ein ums andere Mal abwischte. Kalt war es. Sie kämpfte sich tapfer voran, sich gegen die Böen stemmend, die sie, wie es schien, am Weitergehen hindern wollten. Doch sie ließ sich nicht aufhalten. Sie spürte, dass sie heute Glück haben und wenigstens eine Zutat finden würde, die sie für ihren Bruder so dringend benötigte. Aber schon nach wenigen Augenblicken wurde ihr klar, dass sie sich selbst etwas vormachte. Falls hier wahrhaftig ein oller Nagel vom Huf eines Pferdes läge, hatte der Schnee ihn zugedeckt. Sie seufzte. Ihre fröhliche Stimmung ließ sie sich dennoch nicht versalzen. Sie konnte ihrem Bruder mit ruhigem Gewissen sagen, dass sie es versucht hatte. Es war ja nicht ihre Schuld, dass ihr niemand die rechten Zutaten vor die Füße legte. So genoss sie die Freiheit, einfach ein wenig durch den Schnee zu stapfen, ihren Schuh dorthin zu setzen, wo noch keiner zuvor einen Abdruck in den weißen Teppich gemacht hatte, und dem Skriptorium mit seiner Enge oder der Hausarbeit zu entkommen.
»Hilfe!«
Esther hatte das sumpfige Ufer der Trave erreicht, das recht weit vom Hafen entfernt lag und noch mit Schilf und Bäumen bewachsen war. Ihr war, als hätte jemand geschrien. Oder war es nur der Wind, der sie an der Nase herumführte?
»Hilfe!«
Nein, jetzt war sie sich sicher, da rief jemand um Hilfe. Wieder und wieder hörte sie das Rufen. Es war eine zarte Stimme, doch die Person, der sie gehörte, schien Todesangst auszustehen und ihre ganze Kraft zusammenzunehmen. Esthers Herz schlug schneller, ihr Blut rauschte vor Aufregung in ihren Ohren. Der Hafen war zu weit, als dass sie von dort einen Hilferuf hätte hören können. Ihre Augen suchten das Ufer ab. Wenn der Wind wie an diesem Tag von Osten kam, drückte er viel Wasser in die Trave. Es stieg manches Mal sehr schnell an und leckte über den Uferrand. Wer nicht aufpasste, geriet leicht in den reißenden Fluss. Nicht umsonst hielt sie stets gehörigen Abstand. Einen Strom, ob er ruhig dahinfloss oder seine ganze gewaltige Kraft zeigte, von der Ferne anzuschauen war ihr ein Vergnügen, ihm zu nahe zu kommen war es nicht.
Da, eine Kinderhand! Sie ragte nicht sehr weit von der Uferböschung aus dem eisigen Wasser.
»Warte, ich helfe dir!«, schrie sie.
Das war leichter gesagt als getan. Sie sah sich rasch um, ob sich etwas finden ließe, das sie dem Ertrinkenden reichen konnte. Da lag ein Knüppel, den der Sturm wohl von einem der mächtigen Bäume geholt hatte. Dick war er, nur leider nicht besonders lang. Warum musste ausgerechnet ihr das passieren? Sie würde den Fluten näher kommen müssen, als es ihr lieb war.
»Ich helfe dir!«, rief sie wieder gegen das Pfeifen und Jaulen des Windes und gegen ihre eigene Furcht an, griff nach dem Ast und lief eilig ein Stückchen die Böschung hinab. Ihre Füße versanken im Morast. Heilige Mutter Gottes, flehte sie innerlich, steh mir bei! Sie musste achtgeben, dass sie nicht ausrutschte und selbst in die eisigen Fluten stürzte.
Ein Kopf tauchte auf, das Gesicht verzerrt vor Angst und Pein. Sie erkannte Petter, den Sohn des Hufschmieds, einen fürchterlichen Bengel, der nichts als Unfug im Sinn hatte. Ganz bestimmt war er mal wieder ausgebüxt. Er ruderte mit den Armen. Offenbar hatte er Esther mit dem Knüppel entdeckt und warf sich in ihre Richtung. Seine Bewegungen verrieten, dass er schon schwach war. Er würde es allein nicht schaffen. Und er musste augenblicklich raus aus dem kalten Wasser. Esther sah sich hilfesuchend um. Warum ließ sich nur keine Menschenseele
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