Die unsichtbare Handschrift
blicken? Die Antwort konnte sie sich leicht selber geben. Die Leute erledigten das Notwendigste vor ihrer Tür oder rund um den Marktplatz. Wer konnte, blieb im Haus am wärmenden Feuer. Und der Hafen war zu weit. Von dort, wo große Warenposten von Schiff zu Schiff verladen wurden oder gar das Salz aus Lüneburg gelagert und weitertransportiert wurde, hatte sie keine Hilfe zu erwarten.
Ihr blieb keine Wahl. Sie hielt sich an den ausladenden Ästen eines Strauchs, der recht nah am Ufer stand, fest und beugte sich so weit wie möglich zu dem Jungen hinüber. Den knorrigen Ast hielt sie am hintersten Ende fest.
»Kannst du ihn packen?«, brüllte sie.
Petter ruderte erneut, reckte einen Arm in ihre Richtung, ließ ihn aber sogleich wieder erschöpft sinken.
»Mann in de Tünn!«, schimpfte sie. Ihre dunkelblonden Haare waren längst vom Sturm unter der Haube hervorgezerrt worden und wehten ihr nun ins Gesicht. Sie konnte sich nicht darum kümmern, konnte auch auf ihre Angst vor Wasser keine Rücksicht nehmen. Sie musste sich um das Balg des Hufschmieds kümmern. Auf der Stelle. Noch einmal blickte sie sich eilig um. Da war niemand weit und breit. Es nützte alles nichts. Sie schnallte ihre Trippen ab und stellte sie beiseite. Die würden im weichen Boden der Trave nur hinderlich sein. Dann ließ sie den Strauch los, der ihr Halt und Sicherheit gegeben hatte, und machte einen Schritt in das eisige Nass. Die vom Wind getriebenen Wellen leckten augenblicklich an ihrem Bein. Es war so kalt, dass es schmerzte. Wie musste der Junge erst leiden! Sie biss die Zähne aufeinander und machte einen weiteren Schritt, dann noch einen. Der Schlamm unter ihren Füßen gab mehr nach als erwartet. Sie strauchelte. Beinahe hätte sie den Ast verloren, den sie Petter hinstrecken wollte. Mit einem Arm musste sie heftig rudern, damit sie nicht das Gleichgewicht verlor und der Länge nach in den Fluss stürzte. Dann wäre sie verloren. Allmählich gelang es ihr, sich zu fangen und wieder festeren Stand zu finden. Sie reckte Petter den knorrigen Knüppel entgegen.
»Los doch, halt dich fest!«, schrie sie ihn an. Ob es der strenge Ton war, den Petters Mutter zu nutzen pflegte, wenn das Früchtchen es mal wieder gar zu doll trieb, oder ob der Überlebenswille dem Kind noch einmal Mumm verlieh, hätte sie nicht zu sagen gewusst. Jedenfalls griff Petter nach dem Ende des Holzes und ließ es nicht mehr los. Esther zog mit aller Kraft. Mit den nassen Sachen war der Knirps ein schwerer Brocken. Ihr Atem ging stoßweise und stieg in kleinen Wolken von ihren Lippen auf.
»Lasst mich das machen, Weib!« Die tiefe Stimme war ganz plötzlich hinter ihr aus dem Nichts aufgetaucht.
Esther konnte sich nicht umsehen, aber ihr fiel ein Stein vom Herzen. Irgendjemand war doch noch an der Trave unterwegs.
»Petter ist ins Wasser gefallen. Allein kriege ich ihn nicht raus«, sagte sie atemlos. Schon war jemand neben ihr. Sie erkannte den Müllerssohn, den sie schon manches Mal auf dem Markt gesehen hatte. »So ein Segen, dass Ihr da seid«, japste sie.
Der junge Müller nahm ihr den Ast aus der Hand. »Geht aus dem Wasser«, kommandierte er.
»Aber ich …«
»Nun geht schon, Ihr holt Euch ja den Tod!« Noch während er sprach, hatte er den Jungen herangezogen. Der rührte sich nicht mehr.
Esther starrte gebannt auf den Körper des Kleinen. Dann tat sie nur zu gerne, was man ihr gesagt hatte. Langsam und vorsichtig drehte sie sich um und stieg die Uferkante hinauf. Sie spürte ihre Füße nicht mehr und begann am ganzen Körper zu zittern, doch sie war unendlich erleichtert, wieder festen Boden unter sich zu haben. Der junge Müller kam mit Petter auf dem Arm gleich nach ihr aus dem Wasser. Der alte Müller, der augenscheinlich mit seinem Sohn unterwegs gewesen war, hatte seinen Mantel ausgezogen, wickelte Petter darin ein und übernahm den reglosen Körper des Jungen. Ohne ein Wort machte er sich mit dem Knaben eilig davon.
Esther blieb mit dem jungen Müller zurück. Beide waren bis zur Hüfte nass.
»Nichts wie nach Hause«, sagte er.
Sie nickte. Ihre Zähne schlugen aufeinander.
»Du liebe Zeit, ist das kalt«, brachte sie klappernd hervor. »Warum muss ich bei dem Wetter auch an der Trave herumlaufen, anstatt in meiner Kammer zu bleiben?«
»Dem Herrn sei Dank, dass Ihr hier herumgelaufen seid. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Ihr nicht zur Stelle gewesen wärt.«
Er hatte recht. Ihr Herz machte einen Hüpfer vor Freude.
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