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Die unsichtbare Handschrift

Die unsichtbare Handschrift

Titel: Die unsichtbare Handschrift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lena Johannson
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Bengel hin oder her, Petter wäre jetzt tot, wenn sie ihn nicht gehört hätte.
    »Aber ohne Eure Hilfe hätte ich es nie geschafft.«
    »Doch, hättet Ihr. Es hätte nur etwas länger gedauert.«
    »Zu lange womöglich. Dann wäre der Junge doch noch erfroren«, gab sie zu bedenken.
    Schlotternd liefen sie nebeneinander her auf den Marktplatz zu.
    »Wollen wir hoffen, dass er nicht schon erfroren ist«, murmelte Esther, die den Anblick des leblosen Kindes nicht vergessen konnte.
    Als sich ihre Wege am Markt trennten, fiel ihr auf, dass sie nicht einmal den Namen des jungen Müllers kannte.
     
    Zu dem winzigen Querhaus, in dem die kleine Schreibstube untergebracht war, die sich kaum ein Skriptorium nennen durfte und die sich ihr Bruder mit zwei anderen Schreibern teilte, war es nicht so weit wie nach Hause. Also hielt sie darauf zu. Dort gab es wenigstens eine Feuerstelle, an der sie sich wärmen und ihre Kleider trocknen konnte.
    Kaspar war allein, als sie eintrat. Mit einem schweren Holzhammer schlug er gerade auf die Galläpfel ein, die Esther im vergangenen Herbst gesammelt hatte. Wie üblich ging er ohne jegliches Gefühl vor, so dass die kostbaren kleinen Kugeln durch die Gegend sausten.
    »Wo kommst du denn her? Und wie siehst du aus? Deine Lippen sind ja blau wie der Lapislazuli.« Kaspar starrte seine Schwester an, den Hammer in der Luft zum nächsten Schlag bereit. Erst jetzt fiel sein Blick auf ihren Rock, und er ließ das Werkzeug sinken. »Und du tropfst, als hättest du mit deinem Kleid in der Trave gestanden.«
    »Ich habe mit meinem Kleid in der Trave gestanden. Ich hätte es bei der Kälte schlecht ausziehen können.«
    Immer stärker schlugen ihre Zähne aufeinander.
    »Aber was wolltest du denn bei dieser Kälte in der Trave?« Kaspars buschige rote Augenbrauen schoben sich nach oben, dass sich die Stirn in Falten legte. »Und überhaupt, was hat dich dazu bewegt, freiwillig ins Wasser zu steigen, wo du doch sonst sicherheitshalber einen großen Bogen darum machst?«
    »Es kann keine Rede davon sein, dass ich etwas im Fluss wollte oder freiwillig hineingestiegen bin.« Sie warf einen getrockneten Fladen in die Flammen, um das Feuer ein wenig zu schüren. »Der Fluss führt Hochwasser, und der Hufschmiedsche Petter ist hineingestürzt.«
    »Und du hast ihn gerettet?« Ihm war die Bewunderung für seine kleine Schwester deutlich anzusehen.
    »Nicht allein«, sagte sie und erzählte ihm die ganze Geschichte. Dabei stand sie so nah an der Feuerstelle, wie es ihr nur möglich war. Den Stoff ihres Rocks breitete sie mit noch immer steif gefrorenen Fingern aus, damit er schnell trocknen sollte.
    »Vitus wird Augen machen, wenn du ihm das erzählst«, brachte Kaspar hervor, als er alles angehört hatte.
    »Wird er nicht, weil ich ihm nichts erzählen werde.«
    Kaspar holte Luft, um zu widersprechen.
    »Und du wirst ihm auch nichts erzählen«, forderte sie ihn auf. Ganz langsam verebbte ihr Zittern, und ihre Lebensgeister kehrten zurück. Wenn sie nur nicht krank wurde. Ein Mittelchen von dem Quacksalber auf dem Markt konnten sie sich nicht leisten. Nicht im Winter. »Er würde sich nur aufregen und mich dafür tadeln, dass ich bei dem Wetter am Traveufer unterwegs war.«
    Wieder wollte Kaspar etwas sagen, war jedoch glücklicherweise ein wenig langsam, wie so oft.
    Da sie ahnte, dass er sich erst jetzt fragte, was sie dort denn wohl gewollt habe, lenkte sie ihn ab: »Du sammelst jetzt besser die Galläpfel ein. Wir können es uns nicht leisten, dass du sie in alle Winkel schießt und welche verlorengehen. Es ist schließlich noch lange hin, bis ich wieder neue sammeln kann.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Ich gehe rasch nach Hause und ziehe mir etwas Sauberes an. Wenn ich zurück bin, kümmere ich mich um die Gallen.«
    »Ich wollte dir nur die schwere Arbeit abnehmen«, gab er zurück. »Diese harten Dinger zu zertrümmern ist keine Arbeit für ein Mädchen. Dafür braucht es Kraft.«
    »Nein«, korrigierte sie lächelnd, »dafür braucht es Fingerspitzengefühl. Eben darum ist es gerade eine Arbeit für mich.«
     
    Lübeck lag auf einer Halbinsel, die Esther an den Rücken einer Schildkröte erinnerte, von der sie einmal eine Zeichnung gesehen hatte. Der Panzer fiel zur einen Seite zur Trave ab, und dort stand das Querhaus, in dem das Skriptorium untergebracht war. Auf der anderen Seite des Schildkrötenpanzers, der sich zur Wakenitz neigte, lag das kleine Holzhaus, in dem sie mit ihrem Bruder

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