Die unsichtbare Pyramide
ihm vorübergegangen.
Francisco glaubte, eiserne Krallen würden an seinem Schädel zerren, um ihn zu zerreißen. Er konnte nur wenige Sekunden besinnungslos gewesen sein. »Du… Aaaah!« Der Schmerz drohte ihm erneut die Besinnung zu rauben. Schnell hielt ihm Vicente wieder das Riechsalz unter die Nase. Als Francisco dem beißenden Geruch auswich, fiel sein verschwommener Blick auf eine blaue Wolke, die unweit des Sarkophags über dem Wasser schwebte.
Vicente kicherte. »Wir haben sie vertrieben. Deine Fesseln musste ich dir übrigens leider wieder anlegen, weil…« Seine Rechte erhob sich über den Rand des Basaltsarges. Ein blaues Funkeln lag darin.
Der Kristalldolch! »Warte!«, stieß Francisco hervor. »Wenn du mich mit dem Ding tötest, wird das Multiversum zerstört. Wir müssen sofort…«
»Schweig! Du redest schon wie mein seniler Vater«, schnitt ihm Vicente das Wort ab und äffte verächtlich den Provinzialen nach. ›»Ich habe erkannt, mein armer Sohn, dass es nie ein stabiles Gleichgewicht zwischen dem Schwachen und dem Starken geben kann. Deshalb muss ich mich mutig über die Regeln der Bruderschaft hinwegsetzen und ein Kind der drei Welten finden. Nur so kann ich sie bei der nächsten großen Annäherung für immer miteinander vereinen. Ich hätte mir gewünscht, du wärest der Auserwählte, Vicente. Leider bist du nur der Ausschuss meiner Tollkühnheit.‹« Vicente warf den Kopf in den Nacken und lachte irre. »Als Ausschuss hat er mich bezeichnet, kannst du dir das vorstellen? Und Mutter verkaufte sich an ihn wie eine Hure, um die Schlacke seiner Aufgeblasenheit abzusondern: Mich! Aber jetzt wird alles anders. Der menschliche Bodensatz soll geläutert werden. Dazu bedarf es nicht viel. Genau genommen nur eines einzigen Stichs am rechten Ort zur rechten Zeit.« Vicente nahm den Dolch in beide Hände und hob die Arme.
»Nicht!«, schrie Francisco und zerrte vergeblich an den Fesseln. Wo waren Trevir und Topra geblieben? Verzweifelt sah er sich nach der blauen Wolke um, die über dem Wasser schwebte. Die Kuppelhalle und das Ebenbild der Kammer waren bestenfalls zu erahnen. Hier wie dort konnte er undeutliche Schemen ausmachen, aber nur die beiden Gestalten seiner Brüder waren wirklich zu erkennen. Nein, da trat noch eine dritte Person hinzu. Sie war…
»Göttlicher Imhotep, bewahre mich vor deinem Fluch, aber segne die Tat, die nun vollbracht werden muss.«
Vicentes wie in Trance hervorgestoßene Worte ließen Franciscos Kopf abermals zur Seite rucken. Entsetzt starrte er auf das Funkeln des Kristalldolches, der im Glanz des Opfers nicht mehr blau, sondern weiß erschien. Francisco kniff die Augen zusammen. Jeden Moment erwartete er den tödlichen Stich.
Ein Schmerzensschrei gellte durch die Kammer des Wissens.
Der Kehle des Opfers war der Laut nicht entflohen. Er stammte von dem aberwitzigen Priester, dessen Hände, wie Francisco nach Öffnen der Lider überrascht feststellte, noch immer hoch erhoben waren, jetzt aber von gewaltigen Pranken festgehalten wurden. Neben Vicente stand jetzt nämlich in Fleisch und Blut jene dritte Person, die eben an die Seite Topras getreten war. Dessen bronzefarbene Hand hielt den unverhofften Besucher am Bund seines Wickelrockes fest, fast so, als habe sie ihn von Anx auf den irdischen Schauplatz geführt. Es war ein bärtiger Riese von ungefähr zwei Meter zwanzig und schwarz wie die Nacht.
Vicentes Hände knallten neben Franciscos Gesicht auf die Basaltplatte und der blaue Dolch klimperte über den dunklen Stein. Sofort wurden die Arme des Archäologen wieder hochgerissen und der Hüne packte ihn im Schritt, stemmte ihn über den Kopf hoch und schleuderte ihn ins Becken. »Jetzt lass mich endlich los, Topra!«, beschwerte sich der Muskelberg auf Altägyptisch und sprang, kaum dass er frei war, dem sich gerade wieder aufraffenden Gegner hinterher. Noch während er durch die Luft flog, zog er wie ein Furcht einflößender Racheengel seinen breiten Rundsäbel und holte aus.
»Töte ihn nicht!«, schrie Francisco.
In der Aufregung hatte er sich seiner Muttersprache bedient und sah schon, wie Vicente seinen Kopf verlor, aber es war nur ein dumpfer Laut zu vernehmen, als die flache Seite des Schwertes seine Schläfe traf, gefolgt von dem Platschen des schlaff ins Wasser fallenden Körpers. Der wie aus dem Nichts erschienene Retter blickte wachsam, mit erhobenem Säbel auf seinen Gegner herab, der aber dümpelte nur noch reglos im Becken auf und
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