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Die unsichtbare Pyramide

Titel: Die unsichtbare Pyramide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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Brief. Wie eine Vision stiegen Claras schöne geschwungene Buchstaben aus dem Dunkel seines benebelten Hirns auf. Sie hatte von »beängstigenden und zugleich beglückenden Neuigkeiten« geschrieben. Offenbar ging es um Vicente, aber dann war Francisco daran gehindert worden, ihre aufregende Mitteilung zu Ende zu lesen. Wo war der Brief jetzt? Vicente hatte ihn einfach fallen lassen. Francisco versuchte über den Rand des Sarkophags zu blicken, aber die Handfesseln hinderten ihn. Vielleicht konnte er…
    Er nahm alle seine Kraft zusammen. Ein Briefbogen war schließlich nicht schwer. Im Geiste stellte er sich die Insel als schiefe Ebene vor, drehte Unten und Oben um und…
    Plötzlich segelte das Papier durch die Kammer. In die verkehrte Richtung allerdings. Wieder ließ eine Erschütterung den Raum erbeben. Irgendwo brach ein Stück der Deckenverkleidung heraus und fiel platschend ins Bassin. Francisco standen Schweißperlen auf der Stirn, so sehr strengte ihn das Jonglieren mit dem federleichten Briefpapier an. Dennoch gelang es ihm, die Kräfte des Multiversums noch einmal umzulenken. Der Bogen glitt wieder auf ihn zu. Über seinem Gesicht ließ Francisco ihn verharren. Danach dauerte es dann noch einige quälend lange Augenblicke, bis er ihn so hingedreht hatte, dass Claras Schrift im Licht der Kerzen deutlich zu lesen war. Wo hatte er aufgehört?
     
    … Und damit komme ich zu den für dich vielleicht beängstigenden und zugleich beglückenden Neuigkeiten. Vicente ist nicht der, für den er sich ausgeben mag. Auf alle Fälle ist er nicht dein Bruder. Der Guardian von La Rábida kannte meinen Vater schon als Kind und wusste, dass er der Sohn von Pedro Alvarez war. Doch Estefania hatte ihre Jugendliebe, deinen Freund und Erzieher Pedro, zum Schweigen verpflichtet. Selbst nach ihrem Tod fühlte sich dein Mentor noch an sein ihr gegebenes Versprechen gebunden. Aber dann – du warst längst aus La Rábida fortgelaufen – kamen Verdachtsmomente auf, dass Vicente der Mörder seiner Eltern sein könnte. Aus Sorge um dich hat der Guardian das Geheimnis des Vicente Morales gelüftet.
    Pedro hatte Estefanias Haus am Abend ihrer Ermordung aufgesucht und sie wie auch den Vater ihres Sohnes tot aufgefunden. Dabei sah er im Dunkeln eine Gestalt, wohlgemerkt, keine Verschwörergruppe, sondern nur einen Schemen, der ihn an Vicente erinnerte. Pedro weigerte sich jedoch, diesen Gedanken auszusprechen. Trotzdem benachrichtigte er anonym die Polizei von der Bluttat und begab sich anschließend nach La Rábida zurück, wo er dich im Schnee fand. Später hat Vicente, um sein Erbe antreten zu können, den Namen Alvarez angenommen und den Franziskanerorden mit einigen unanfechtbaren Dokumenten seines Vaters erpresst. Nur weil man die Kirche im Allgemeinen und das Andenken an Pedro Alvarez im Besonderen nicht beschmutzen wollte, gab man dem Ansuchen seines unehelichen Sohnes nach. Der Nachlass meines Großvaters konnte dem Orden und dem Heiligen Stuhl mehr schaden als nützen, weswegen man ihn Pedros unbequemen Sprössling samt einiger obskurer Dokumente fast erleichtert aushändigte.
    Mit seiner Zeugenaussage hat der Guardian den Ermittlungsbehörden neue Beweise erschlossen, die meinen Vater als Doppelmörder entlarven. Wie ich erfuhr, soll gegen ihn ein internationaler Haftbefehl erlassen werden. Sosehr ich mich freue, dass nicht mehr der Fluch des Inzests unsere Liebe bedroht, sosehr bange ich um dein Leben, Francisco. Ich konnte meine Mutter dazu überreden, ihr Sparkonto zu plündern, um mir ein Flugticket nach Ägypten zu kaufen. Am Samstag, dem 16. Juli, treffe ich morgens in Kairo ein und hoffe dich wohlbehalten im Hotel Le Meridien Pyramids wiederzusehen. Es gibt so viel, das wir miteinander besprechen müssen. Und noch viel mehr, das ich mit dir erleben möchte.
    In Liebe, deine Clara
     
    Das Blatt taumelte träge zu Boden. Der Geist des Lenkers hatte es nicht länger halten können. Völlig erschöpft ließ er den Kopf zurücksinken und schloss die Augen.
    Es waren nicht so sehr Claras Eröffnungen über Vicentes Bluttat, die Francisco die Kehle zuschnürten, ihn wie tot daliegen ließen – diese schreckliche Wahrheit hatte er bereits geahnt –, vielmehr quälten ihn ihre Abschiedsworte. Ja, Clara hatte ihm wirklich vergeben. Der zweite Teil ihres Briefes ließ keine Zweifel mehr an dem aufkommen, was er im Hotel kaum zu hoffen gewagt hatte. Sie liebt mich! Sie hat viel mit mir zu besprechen, will »noch viel mehr« mit

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