Die Unsterblichen
während des Sekundenbruchteils, in dem seine Augen sich von mir abwenden, seltsam kalt und flau.
Doch sobald sein Blick wieder zu mir zurückkehrt, ist alles wieder warm und schön. »Darf ich dich um einen Gefallen bitten?« Er lächelt. »Würdest du mir dein Buch leihen, Wuthering Heights? Ich muss nachholen, was ihr schon gelesen habt, und ich schaffe es heute nicht mehr in die Buchhandlung.«
Ich greife in meinen Rucksack, hole das von Eselsohren verunstaltete Buch hervor und halte es mit den Fingerspitzen. Ein Teil von mir sehnt sich danach, seine Finger mit den meinen zu streifen, Kontakt zu diesem wunderschönen Fremden aufzunehmen, während der andere Teil, der stärkere, klügere hellseherische Teil, sich angstvoll krümmt und den schrecklichen Blitz der Erkenntnis fürchtet, der bei jeder Berührung aufzuckt.
Erst als er das Buch in sein Auto wirft, die Sonnenbrille wieder herunterklappt und sagt: »Danke, bis morgen dann«, wird mir klar, dass abgesehen von dem leichten Kribbeln in den Fingerspitzen nichts passiert ist. Und ehe ich auch nur antworten kann, setzt er aus seiner Parklücke zurück und fährt davon.
»Entschuldigung«, sagt Miles kopfschüttelnd, während er neben mir einsteigt, »aber als ich gesagt habe, du würdest ausrasten, wenn du ihn siehst, da war das nicht als Vorschlag gemeint, das solltest du nicht wörtlich nehmen. Mal ganz ernsthaft, Ever, was ist da eben passiert? Weil, das war echt megaverspannte Verlegenheit, so ein richtiger Augenblick Marke Hallo, ich heiße Ever, und ich bin ab jetzt deine neue Stalkerin. Ich mein's so was von ernst. Ich dachte schon, wir müssten dich gleich wiederbeleben. Und glaub mir, du hast extremes Glück, dass unsere liebe Freundin Haven nicht dabei war, denn ich sag's dir ja nur ungern, aber sie hat da eine Reservierung...«
Miles quasselt weiter, redet und redet, den ganzen Nachhauseweg lang. Aber ich lasse ihn sich einfach ausquatschen, während ich uns durch den Verkehr lotse und mein Finger gedankenverloren über die dicke, rote Narbe auf meiner Stirn streicht, die Narbe, die unter meinem Pony verborgen ist.
Ich meine, wie kann ich denn erklären, dass seit dem Unfall die einzigen Menschen, deren Gedanken ich nicht hören, über deren Leben ich nicht Bescheid wissen und deren Aura ich nicht sehen kann, schon tot sind?
DREI
Ich schließe die Haustür auf, hole mir eine Flasche Wasser aus dem Kühlschrank und gehe dann nach oben in mein Zimmer. Dabei brauche ich mich gar nicht weiter umzuschauen, um zu wissen, dass Sabine noch bei der Arbeit ist. Sabine ist immer bei der Arbeit, was bedeutet, dass ich dieses riesige Haus so ziemlich die ganze Zeit für mich allein habe, obwohl ich normalerweise in meinem Zimmer bleibe.
Sabine tut mir leid. Es tut mir leid, dass das Leben, für das sie so schwer gearbeitet hat, sich an dem Tag für immer verändert hat, als sie mich aufgehalst bekam. Aber da meine Mom ein Einzelkind war und all meine Großeltern gestorben waren, ehe ich zwei Jahre alt war, blieb ihr eben nicht viel anderes übrig.
Ich meine, entweder wäre ich bei ihr - der einzigen Schwester meines Vaters - geblieben, oder ich wäre in eine Pflegefamilie gekommen, bis ich achtzehn bin. Und obgleich sie keine Ahnung davon hat, wie man Kinder großzieht, war ich noch nicht mal aus dem Krankenhaus entlassen worden, als sie schon ihre Eigentumswohnung verkauft, dieses große Haus erstanden und einen der besten Innenarchitekten von Orange County angeheuert hatte, um mein Zimmer einzurichten.
Ich meine, ich habe all die üblichen Sachen, zum Beispiel ein Bett, eine Kommode und einen Schreibtisch. Aber ich habe auch einen Flachbildschirmfernseher, einen riesengroßen begehbaren Kleiderschrank, ein Riesenbad mit Whirlpoolwanne und separater Duschkabine, einen Balkon mit einem unglaublichen Blick aufs Meer und mein ganz privates Wohn- und Spielzimmer, ebenfalls mit Flachbildschirmfernseher, Bar, Mikrowelle, Mini-Kühlschrank, Geschirrspülmaschine, Stereoanlage, Sofas, Tischchen, Sitzsäcken - das volle Programm.
Komisch, früher hätte ich für so ein Zimmer alles gegeben.
Doch jetzt würde ich alles dafür geben, dass es wieder so ist wie früher.
Weil Sabine den größten Teil ihrer Zeit mit anderen Anwälten und all diesen VIP-Geschäftsleuten verbringt, die ihre Kanzlei vertritt, hat sie wohl wirklich geglaubt, all dieser Kram wäre nötig oder so was. Und ich wusste nie genau, ob sie keine Kinder hat, weil sie die
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