Die Unsterblichen
ganze Zeit arbeitet und sie nicht in ihrem Tagesplan unterkriegt, ob sie einfach noch nicht dem richtigen Mann begegnet ist oder ob sie von Anfang an nie welche wollte. Oder ob es eine Mischung aus allen drei Gründen ist.
Wahrscheinlich scheint es, als sollte ich das alles wissen, da ich doch hellsehen kann und so. Aber ich kann nicht unbedingt die Beweggründe eines anderen Menschen sehen, meistens nur die Ereignisse. Als ob eine ganze Serie von Bildern das Leben von jemandem widerspiegelt. Allerdings sehe ich manchmal auch Symbole, die ich entschlüsseln muss, um zu wissen, was sie bedeuten. So ähnlich wie Tarotkarten.
Ist allerdings alles andere als idiotensicher, und manchmal liege ich auch voll daneben. Aber wenn das passiert, kann ich das Ganze immer direkt zu mir zurückverfolgen, und zu der Tatsache, dass manche Bilder mehr als eine Bedeutung haben. Wie damals, als ich ein großes Herz mit einem Sprung in der Mitte für Liebeskummer gehalten habe - bis die Frau mit einem spontanen Herzstillstand umgekippt ist. Manchmal kann es ein bisschen verwirrend sein, wenn man versucht, das alles auseinanderzudröseln. Nur die Bilder selbst lügen niemals.
Jedenfalls brauche ich wohl keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass die Leute normalerweise an kleine pastellfarbene Wonnebündel denken, wenn sie davon träumen, Kinder zu kriegen, und nicht an eine eins dreiundsechzig große, blauäugige, blonde Halbwüchsige mit paranormalen Fähigkeiten und tonnenweise emotionalen Problemen im Gepäck. Deswegen bemühe ich mich, ruhig und respektvoll zu sein und Sabine nicht in die Quere zu kommen.
Und ich lasse mir definitiv nicht anmerken, dass ich fast jeden Tag mit meiner toten kleinen Schwester spreche.
Als Riley zum ersten Mal erschien, stand sie mitten in der Nacht am Fußende meines Krankenhausbettes, hielt eine Blume in einer Hand und winkte mit der anderen. Ich weiß noch immer nicht genau, was mich damals aufweckte, denn es war nicht etwa so, als hätte sie etwas gesagt oder irgendein Geräusch gemacht. Wahrscheinlich habe ich ihre Gegenwart gespürt oder so, wie eine Veränderung im Zimmer, oder als hätte sich die Luft elektrisch aufgeladen.
Zuerst dachte ich, ich hätte Halluzinationen - noch so eine Nebenwirkung von den Schmerzmitteln, die ich einnehmen musste. Doch nachdem ich ohne Ende geblinzelt und mir die Augen gerieben hatte, war sie immer noch da, und ich kam wohl gar nicht erst auf den Gedanken, zu schreien oder um Hilfe zu rufen.
Ich sah zu, wie sie um das Bett herumkam, auf die Gipsverbände an meinen Armen und meinem Bein zeigte und lachte. Ich meine, es war ein lautloses Lachen, aber komisch fand ich das Ganze trotzdem nicht. Doch sobald sie meine wütende Miene bemerkte, sortierte sie ihren Gesichtsausdruck neu und gestikulierte, als wolle sie fragen, ob es wehtäte.
Ich zuckte mit den Schultern, ein bisschen sauer auf sie, weil sie gelacht hatte, und mehr als nur ein bisschen erschrocken über ihre Anwesenheit. Obwohl ich nicht ganz überzeugt war, dass sie es wirklich war, hielt mich das nicht davon ab zu fragen: »Wo sind Mom und Dad und Buttercup?«
Sie legte den Kopf schief, als stünden sie gleich neben ihr, doch alles, was ich sehen konnte, war leere Luft.
»Das verstehe ich nicht.«
Sie lächelte nur, legte die Handflächen aneinander und neigte den Kopf zur Seite, als Zeichen dafür, dass ich weiterschlafen sollte.
Also schloss ich die Augen, obwohl ich mir früher von ihr niemals etwas hätte sagen lassen. Dann riss ich sie genauso schnell wieder auf und sagte: »Hey, wer hat gesagt, dass du meinen Pullover anziehen darfst?«
Und plötzlich war sie weg.
Ich gebe es zu, ich war den ganzen Rest der Nacht über wütend auf mich, weil ich sie so etwas Dämliches, Herzloses, Selbstsüchtiges gefragt hatte. Da hatte ich nun die Gelegenheit, Antworten auf einige der größten Fragen des Lebens zu bekommen, möglicherweise jene Art Einblick zu gewinnen, über die seit Menschengedenken gerätselt worden war. Stattdessen vergeudete ich den Augenblick damit, meine kleine Schwester zusammenzustauchen, weil sie in meinem Kleiderschrank gewildert hatte. Alte Gewohnheiten sind wohl wirklich schwer zu überwinden.
Als sie zum zweiten Mal auftauchte, war ich so froh, sie zu sehen, dass ich kein Wort darüber verlor, dass sie nicht nur meinen Lieblingspullover trug, sondern auch meine beste Jeans (die so lang war, dass die Hosenbeine sich wie Ziehharmonikas um ihre Knöchel
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