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Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts

Titel: Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W Freund
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er ein Bastard war, wusste er nicht. Vielleicht wäre er in diesem Augenblick lieber einer gewesen als – nichts.
    »Gott liebt jedes seiner Schäfchen und seine Liebe macht uns alle gleich. Ist es nicht so, Hochwürden?« Irmingast und der Advokat standen sich gegenüber wie Jungs auf dem Kirchplatz, kurz bevor sie sich die Nasen blutig schlagen.
    »Gewiss.« Irmingast lächelte dünn und zeigte seine schrecklichen Zähne. »Und wie alt bist du, Jonas Nichts? Zwölf würde ich sagen. Ja. Zwölf.« Seine Stimme war leiser geworden, und er nickte kaum merklich, so, als würde ihm nach langer Zeit ein alter Verdacht bestätigt.
    Jonas wurde gleichzeitig heiß und kalt. »Ich bin schon dreizehn, Hochwürden«, sagte er mit zitternder Stimme und fingerte in seiner Hosentasche nach Rubens Zettel.
    »Ach!« Irmingast hielt seine Kerze ein wenig tiefer, um Jonas besser betrachten zu können. »Sag, ist dein eines Auge blind?« Die Kerzenflamme kam Jonas’ Gesicht plötzlich bedrohlich nah. Er spürte die Blicke auf sich. Nicht nur den von Irmingast. Auch Tabbi beugte sich jetzt neugierig zu ihm herab.
    »Nein«, flüsterte Jonas. »Ich kann gut sehen.«
    Peregrin Aber räusperte sich. »Der Junge hat einfach verschiedenfarbige Augen. So was kommt vor.« Er räusperte sich noch einmal.
    »Ja«, sagte Irmingast leise, bevor er wieder die Stimme hob. »Und etwas mager bist du auch.« Seine spitzen Finger schlossen sich um Jonas’ Oberarm. Noch nie war Jonas eine Berührung so unangenehm gewesen. »Sie haben dich nicht anständig gefüttert, Kleiner.« Irmingast drückte noch einmal zu, bevor er ihn wieder losließ und seine Brille zurechtrückte. Immer noch waren seine Augen nicht zu sehen. »Tabbi! Bestimmt finden sich auch ein paar ordentliche Kleider in den Schränken des Hauses. Der junge Mann sieht doch etwas ärmlich aus. Wollen Sie sich darum kümmern?«
    Tabbi nickte beflissen. »Natürlich, Hochwürden«, sagte sie.
    Jonas rieb sich unauffällig den Arm. Er wollte Irmingasts Berührung wegwischen.
    »Und für eine Mahlzeit ist gesorgt? Tabbi?«
    »Ja, Hochwürden.«
    »Fein.« Irmingast bleckte erneut die Zähne und lächelte reihum jedem zu. An Jonas blieb sein Spiegelblick hängen. »Dann sehen wir uns morgen. Zur Testamentseröffnung. Ich wünsche einen gesegneten Appetit. Gute Nacht allerseits.« Und nach einer angedeuteten Verbeugung stieg er die Treppe wieder hinauf, Stufe für Stufe, ohne Eile.
    Jonas hatte eine Gänsehaut, als er das Licht der Kerze endlich verschwinden sah.
    Sie aßen in einer kalten Küche, die Jonas mit ihrem Steinfußboden und dem Doppelgewölbe wie eine Grotte vorkam. Tabbi tischte auf, lief vom Tisch zum Küchenschrank, vom Küchenschrank wieder zum Tisch und dann in die Speisekammer. Vielleicht war sie froh, sich nicht setzen zu müssen.
    Peregrin Aber speiste lustlos und Jonas brachte gar nichts hinunter. Er war hellwach und zugleich so erschöpft, dass er schrecklich fror. Wenn er auf das Essen sah, musste er an die langen Zähne des Pfarrers denken und stellte sich vor, wie sie sich in etwas Weiches bohrten. Die Aussicht auf eine Nacht allein in einem Zimmer auf Wunderlich versetzte ihn in heillose Unruhe. Er sehnte sich nach seiner Küchenbank und den vertrauten Geräuschen, nach Brands pfeifendem Schnarchen und dem fernen Rumoren im Stall.
    Indem er sich mit seinem Taschentuch die Mundwinkel tupfte, gab Peregrin Aber das Signal zum Aufbruch. Tabbi hatte einen großen Leuchter beschafft und für den Advokaten und seinen jungen Schützling je ein Nachtlicht. So bewaffnet, ging es durch die große, dunkle Halle jene Treppe hinauf, über die auch Irmingast verschwunden war.
    Die Treppe hatte endlos viele Stufen und knarzte wie ein altes Schiff. Überall roch es muffig. Tabbis Leuchter malte wilde Schatten an die Wände eines breiten Korridors im ersten Stock. Aus schweren Bilderrahmen sahen ihnen blasse Gestalten misstrauisch nach. Nur für Augenblicke wurden diese Gestalten sichtbar, dann verschmolz die dicke Ölfarbe wieder mit der Dunkelheit.
    »Lauter Finken«, murmelte Peregrin Aber, und das sollte wohl heißen, dass die Bilder Verwandte von Clara und Alma darstellten. Weitere Erklärungen jedoch blieben aus. Der Advokat hatte es eilig. Er hielt sein Nachtlicht am lang ausgestreckten Arm und lief ihm hinterher. Hinter jeder Tür, an der sie vorbeikamen, vermutete Jonas den Pfarrer oder Alma, und bestimmt wäre sein Herz stehengeblieben, hätte sich eine dieser Türen

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