Die unwahrscheinliche Reise des Jonas Nichts
breitete lachend die Arme aus und zauste Jonas’ Haar. Dann sah er erwartungsvoll zu Tabbi hinüber.
Sie schien zu verstehen. »Genau!«, rief sie. »Jetzt wird gekocht! Ich habe einen Bärenhunger.« Sich schon die Ärmel hochkrempelnd, ging sie auf die Tür zu, dann hörte man auch sie auf der Treppe.
Ruben warf Jonas einen fragenden Blick zu.
Kommst du?
»Gleich«, sagte Jonas.
Ruben bückte sich unter dem Türrahmen hindurch.
»Gleich«, sagte Jonas noch einmal.
Rubens leiser werdende Schritte. Dann war es still.
Jonas sah sich um. Zum ersten Mal war es im Spielzimmer hell. Sein Blick glitt über das Pferd auf Rädern, die Porzellanpuppen mit ihrem schütteren Haar, das staubbedeckte Puppenhaus. Die Krippe hatte Jonas zuvor nicht bemerkt. Ein geschnitzter Ochse, ein umgefallener Josef, ein kleines, weißes Christuskind. Der Esel fehlte.
Jonas trat langsam zum Tisch und legte Elsas Köfferchen ab. Dann machte er es auf und holte eine Figur nach der anderen heraus. Fein säuberlich stellte er sie auf. Lunette und Leopold, Grimbert, Suleman und Fiet. Vielleicht ließe sich ein anderer Faramund kleben, vielleicht nicht. Zuletzt legte er den Kiesel auf den Tisch, den wilden, freien Wieflinger.
Es war kalt im Spielzimmer. Fröstelnd trat er ans Fenster und sah hinaus in den verschneiten Hof. Wie weiß und glatt und unberührt es dort draußen war. Er blieb lange so stehen und sah seinen Atemwolken hinterher.
Dann hörte er Tabbi rufen, ihre Stimme schallte über den Hof.
»Jonas!«, rief sie. »Jonas!«
Er kam von weit her.
»Das Essen ist fertig!«
Im Sommer 1826 schenkte der Pfarrer Brontë seinen Kindern Charlotte, Branwell, Emily und Anne zwölf Holzsoldaten. Branwell wurde damals gerade neun, Charlotte war zehn, Emily und Anne waren sieben und sechs Jahre alt. Zusammen spielten die Brontës nun über viele Jahre eines der erstaunlichsten Spiele aller Zeiten. Die zwölf Holzsoldaten besiedelten die Traumreiche Angria und Gondal und gründeten eine gläserne Stadt. Die 3 × 5 cm kleinen Hefte, die davon erzählen, sind bis heute nur schwer zu entziffern. Unwahrscheinlich, dass Tabby, die Köchin der Brontës, sie je gelesen hat.
Ein halbes Jahrhundert später baute der bayerische »Märchenkönig« Ludwig II . auf einer Insel im Chiemsee ein Schloss. Wer Herrenchiemsee heute besichtigt, läuft an einem bronzenen Pfau vorbei durchs Vestibül, steigt die Gesandtentreppe hinauf, staunt über die große Spiegelgalerie, das Porzellankabinett oder die blaue Kugel in Ludwigs Schlafzimmer. Der Höhepunkt eines Besuchs auf Herrenchiemsee jedoch ist, finde ich, das »Tischlein-deck-dich«.
W. F.
Wieland Freund
© HRSchulz, München
Wieland Freund, geboren 1969 in Paderborn, ist Autor, Kritiker und Journalist. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. Bei Beltz & Gelberg erschien bereits der Roman Gespensterlied (ausgezeichnet mit dem Bayerischen Kunstförderpreis).
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