Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Emily.
»Ein Nekir hat sie gestochen«, meldete sich Aurora zu Wort.
»Höllische Biester, nicht wahr?« Lycidas’ Gesicht zeigte einen Ausdruck, der wohl Bedauern darstellen sollte.
In der Mitte des Raums stand eine lange Tafel, angefüllt mit Köstlichkeiten. An den Wänden hingen kunstvolle Teppiche und farbenfrohe Ölgemälde in riesenhaften Rahmen. Zu meiner Linken wurde ich zweier Gerippe gewahr, die zu klein waren, um Erwachsenen gehört zu haben. Zwei gläserne Vitrinen beherbergten die menschlichen Überreste.
»Prinz Edward der Fünfte und sein jüngerer Bruder Richard, ehemaliger Duke von York.«
Erst jetzt bemerkte ich die Gestalten, die im Schatten eines Vorhangs an einem der Fenster standen.
»Wir liquidierten sie«, sagte Mr. Wolf.
Und Mr. Fox fügte hinzu: »So lautete unser Auftrag.«
»Ich kann es mir wohl guten Gewissens ersparen, Ihnen meine hilfreichen Hände vorzustellen. Mr. Fox und Mr. Wolf.«
Ich zog es vor, finster zu schauen.
»Erfreut«, sagte Mr. Fox.
»Dito«, grummelte Mr. Wolf.
Lycidas schritt um die Tafel herum.
Kam auf uns zu.
»Die beiden haben dieses Mal für einige Irrungen und Wirrungen gesorgt. Stimmt’s, meine Herren?«
Sich verteidigend gab Mr. Wolf zu bedenken: »Die Schuld tragen der Lordkanzler von Kensington und seine Wölfe.«
»Dem muss ich beipflichten«, erklärte Mr. Fox.
»Missgeschicke passieren eben.« Lycidas lachte.
Die Ungeduld und den Unmut zu zügeln fiel mir immer schwerer.
»Was soll dieser Zirkus?«, fragte ich zornig.
Lycidas’ Lächeln erstarb.
Schnellen Schrittes kam er auf mich zu.
»Wir sollten unser Augenmerk auf dieses Kind richten«, sagte er. »Denn um sie geht es doch, nicht wahr? Es geht um Emily Laing.« Mitleid zeigte sich in den dunklen Augen. Dann befahl mir Lycidas: »Legen Sie das Kind auf den Boden.«
Ich zögerte.
»Tun Sie es!«, herrschte er mich an.
»Er wird sie retten«, sagte Mr. Fox.
»Wird er«, echote Mr. Wolf.
Unnötig zu erwähnen, dass ich keinem der Anwesenden Glauben schenkte.
Trotzdem hatte ich keine Wahl.
Man widersetzt sich keinem Engel.
Hätte er Emily töten wollen, so wäre dies schon mehrere Male möglich gewesen. Also hoffte ich, dass er die Wahrheit sprach.
Und legte den Körper sachte auf den Marmorboden.
Lycidas trat vor und kniete sich neben Emily.
Berührte sie an Stirn und Hals.
Beugte sich über ihren kleinen Körper.
Und hauchte ihm neues Leben ein, wie es nur einem Engel möglich ist.
Kurz darauf blinzelte Emily verschlafen in die Runde; gerade so, als erwache sie nach langer Nacht aus einem tiefen Traum.
Sofort war Aurora zur Stelle. »Emmy!« Sie schloss die Freundin in die Arme.
Emily blinzelte benommen. »Wo bin ich?«
An dieser Stelle ergriff Lycidas das Wort. »Sie sind Gast in meinem Haus.«
»Wir befinden uns im Tower von London«, sagte ich.
Misstrauen ergriff Besitz von dem Mädchen.
»Sie sind geheilt«, meinte Lycidas gönnerhaft.
Überrascht berührte Emily ihre Stirn, wo getrocknetes Blut an ihrem Finger kleben blieb. »Ich fühle mich gut«, stellte sie fest. »Ich meine, so richtig gut. Gesund.« Sie erinnerte sich an den Versuch, zum Stollen an der gegenüberliegenden Höhlenseite zu gelangen, an den Stachel des Nekir und die aufflammenden Schmerzen. »Wie ist das möglich?«
»Ich war einst ein Engel«, gab Lycidas lapidar zur Antwort.
»Außerdem hat Master Wittgenstein deine Seele geheilt«, sagte Aurora schnell, die des mürrischen Ausdrucks in meinem Gesicht gewahr geworden war. »Mit den Steinen.«
Ich trat auf Emily zu und reichte ihr die Hand, um sie hochzuziehen.
Als sie neben mir und Aurora stand, ging Lycidas zur Tafel zurück.
»Sie fragen sich sicherlich noch immer, weshalb ich Sie habe herbringen lassen.«
Welch eine Frage! »Nein, eigentlich nicht.«
»Ihr Humor, lieber Wittgenstein, sucht seinesgleichen.« Er gebot uns, an der Tafel Platz zu nehmen. »Doch bin ich mir sicher, dass Sie alle an meinen Beweggründen interessiert sind.« Erneut von erschreckender Freundlichkeit fügte er hinzu: »Lassen Sie sich die Köstlichkeiten munden, damit Sie alle wieder zu Kräften kommen.«
»Geht es Ihnen wirklich wieder gut?«, fragte ich Emily zweifelnd.
Das Mädchen nickte nur.
Wir setzten uns.
Mr. Fox und Mr. Wolf blieben dort stehen, wo sie waren.
»Wie ich bereits erwähnte, kam es zu einigen unglückseligen Irrungen und Wirrungen, zweifelsohne hervorgerufen durch Mängel in der Organisation dieses Vorhabens. Es ist
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