Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
pah! Es gibt nur eine Meinung. Die SEINE. Wer anderes kundtut, wird verbannt.« Er ging zurück zu seinem Platz an der Tafel und ließ sich nieder. »ER hasst die Menschheit, weil sie ihm vor Augen hält, wie fehlerhaft ER selber ist. Und ER hasst jeden, der IHN daran erinnert.« Er erhob ein Glas mit rotem Wein und leerte es in einem Zug. »Ich bin, was ich bin, weil ER es so wollte. Wer also, frage ich Sie nun, trägt die Schuld an alledem?«
Keiner von uns hielt es für ratsam, ihm darauf eine Antwort zu geben.
Lycidas lächelte, wie nur ein Engel es tun kann.
Und es war grausam anzuschauen.
Er nippte an einem weiteren Glas Rotwein.
Beruhigte sich.
»Entschuldigen Sie diesen Gefühlsausbruch. Und lassen Sie mich zu den Geschehnissen der Gegenwart zurückkehren.«
»Was ist mit meiner Schwester?«
»Der geht es gut.«
»Sie wollten doch auch sie an den Wyrm verfüttern, oder etwa nicht?«
Überrascht stellte Lycidas das Weinglas ab.
»Nimmer.« Ernst musterte er das Mädchen. »Das müssen Sie mir glauben. Ich wollte sie retten aus diesem Elend im Waisenhaus. Und Sie, Miss Emily, obendrein.«
Ich unterbreitete einen Vorschlag. »Das sollten Sie uns erklären.«
»Das werde ich. Doch muss ich dazu etwas weiter ausholen.« Lycidas wirkte geduldig und gönnerhaft. »Wie Sie mittlerweile wohl gemerkt haben, besitzen Engel kein Geschlecht, nicht so, wie es die Menschen tun. Wir können sowohl als Mann als auch als Frau in Erscheinung treten. Wir sind keines von beidem und doch beides zugleich. Miss Mia Manderley, Ihre Mutter, lernte ich vor langer Zeit kennen, und zwar in weiblicher Gestalt. Als Lucia del Fuego diente ich Ihrer Mutter während der Whitechapel-Aufstände als Beraterin und Leibwächterin. Doch bald schon wurden wir Freundinnen. Mia Manderley verliebte sich in jenen Tagen in einen jungen Burschen namens Richard Swiveller, Ihren Vater. Doch beschlossen die Ratten schon damals, den Frieden mithilfe einer Heirat wiederherzustellen. Ein Kind von einer Elfe und einem Menschen passte in diesen Plan nicht hinein. Also schob man Sie ab. Ins Waisenhaus nach Rotherhithe.«
»Aber was geschah mit Mara?«
Emily wurde immer ungeduldiger.
»Mia Manderley heiratete Martin Mushroom. Die beiden bekamen ein Kind. Als Mara entführt wurde, waren beide untröstlich. Niemand wusste, wer zu dieser Schandtat fähig gewesen war und wer sie durchgeführt hatte. Niemand wusste, aus welchem Grund das Kind entführt worden war. Es gab keine Forderungen. Keine Nachrichten. Nichts! Dann erfuhren die Ratten vom Waisenhaus in Rotherhithe. Die Nachricht machte schnell die Runde in der uralten Metropole. Mara Mushroom ist gefunden worden! Ich ahnte, dass die Ratten kein ehrliches Spiel spielten, und suchte noch in der gleichen Nacht Manderley Manor auf, wo ich mich mit Mylady Manderley beriet. Ich beabsichtigte, das Kind im Waisenhaus abzuholen. Die Ratten sollten erst einmal nichts davon erfahren. Ebenso wenig Lord Mushroom. Die Spannungen zwischen den Eheleuten sind mittlerweile so stark geworden, dass eine Trennung nicht mehr auszuschließen ist.«
»Eine Trennung der beiden Häuser würde neue Unruhen bedeuten«, gab ich zu bedenken.
»Sie sagen es, Wittgenstein.«
»Aber Sie haben Mara doch entführen lassen.«
Etwas stimmte auch hier nicht ganz. Emily spürte es. Wie einen Geruch, der in der Luft wehte.
Lycidas schüttelte den Kopf. »Ich entsandte Mr. Fox und Mr. Wolf, um die Kleine in Empfang zu nehmen. Keine Entführung. Wir hatten alles mit Reverend Dombey ausgehandelt. Doch bevor es zur Übergabe kommen konnte, wurde sie entführt.« Mit einem Blick zu Mr. Fox und Mr. Wolf, die noch immer im Schatten der Fenster standen, fügte Lycidas hinzu: »Von Larry dem Lykanthropen, der wiederum im Auftrag des Lordkanzlers Kensington handelte.«
Hier vermutete ich die Lücke in seiner Argumentation.
»Aber Sie und Kensington kennen einander doch.«
Lycidas lächelte, jedoch keineswegs ertappt. »Das tun wir. Und mehr noch: Hinter dem Titel des Lordkanzlers von Kensington verbirgt sich Anubis, einer meiner Diener, den es nach langer Wanderschaft in die uralte Metropole verschlagen hat. Kensington hat die Aufgabe erhalten, mir Kinder zu besorgen. Das ist der unschöne Teil der Geschichte. Ja, auch derzeit benötige ich wieder Kinder, weil Pairidaezas Stock neue Früchte tragen muss. Also lässt Kensington seine Armee von Werwölfen jede Nacht ausschwärmen, um mir die Kinder zu besorgen. Dummerweise suchte sich Larry
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