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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Bewegung setzten. Wir hatten nicht einmal die Wahl. Eingeschlossen in das Meer schmutziger und zerlumpter Leiber blieb uns nichts anderes übrig, als der Einladung des Unbekannten nachzukommen. Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen trieben uns vor sich her, durch verwinkelte Korridore und niedrige Schächte, lange, gewundene Treppen hinauf, dorthin, wo das Eis geschmolzen war und es wärmer wurde.
    »Wohin bringen die uns?«
    »Woher, bitte schön, soll ich das wissen?«
    Dabei ahnte ich es.
    »Es wird Ihnen nicht gefallen, wenn ich es Ihnen sage.«
    Sie brachten uns hinauf in den Tower von London.
    Zu Lycidas.
    Maurice Micklewhite kauerte in dem großen Sessel in seinem Büro in der Nationalbibliothek und blickte durch das große Fenster in die Nacht hinaus. Mylady Hampstead hatte ihn von den Dingen in Kenntnis gesetzt, die sie selbst erst vor wenigen Stunden in Erfahrung hatte bringen können.
    Dinsdale hockte in einer der Leselampen und tankte neue Kraft.
    Kurz nachdem die Rättin ihn verlassen hatte, erreichte ein Anruf die Bibliothek.
    Eleonore Manderley verlangte nach Master Micklewhite.
    Und die Teile des Puzzles begannen sich zusammenzufügen.
    Die Pforten zum Audienzsaal des White Towers öffneten sich knarzend, und vor uns stand der Lichtlord, gekleidet in einen bodenlangen Hausmantel aus feinstem Samt mit goldenen Ornamenten. Er trug das Haar offen, in sanften Wellen fiel es ihm über die Schultern. Die tief liegenden schwarzen Augen musterten uns durch die schweren und dicken Gläser einer altmodischen Brille. Entfernt waren die Züge Lucia del Fuegos erkennbar. Dennoch handelte es sich bei der Person, die uns in dem geräumigen Saal empfing, eindeutig um ein männliches Wesen seiner Gattung. Mit dem Hauch einer femininen Ausstrahlung, will ich hinzufügen.
    »Ich heiße Sie willkommen in meinem Haus«, begrüßte er uns und fügte mit einem süffisanten Lächeln hinzu: »Treten Sie näher und lassen Sie ein wenig von dem Glück hier, das Sie begleitet.«
    »Lycidas!« Ich ließ keinen Zweifel daran, dass mir die unfreiwillige Gesellschaft missfiel.
    »Master Wittgenstein. Miss Aurora Fitzrovia. Miss Emily Laing.« Die Pforten hinter uns schlossen sich wie von Geisterhand. »Wie schön, Sie drei nach den unglückseligen Wendungen in Pairidaezas Kathedrale hier in meinem Heim begrüßen zu dürfen.«
    Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen hatten uns, nachdem sie uns durch die Hölle bis hin zum Verrätertor geleitet hatten, der Garde des Lichtlords übergeben, düsteren, rabenhaften Kreaturen, die jedoch nichts gemein hatten mit den Rabenmenschen vom Ravenscourt. Bewaffnet mit schweren, eisernen Hellebarden und Schwertern hatte uns ein federviehähnliches Wärtergespann zum White Tower geleitet. Die Raben des Tower trugen die schwarzen Gehröcke der königlichen Leibgarde inklusive der roten Verzierungen, die so typisch sind für die Beefeaters.
    Der Tower von London, in dem wir uns befanden, war nicht jene Festung, durch deren Mauern tagtäglich tausende und abertausende von Touristen strömen. Es war, um konkret zu werden, ein düsteres Abbild jener uralten Festungsanlage, die einst als Gefängnis und gleichermaßen als Heimstätte für die Könige Englands gedient hatte.
    Denn unterhalb des Towers von London befindet sich ein gigantischer Hohlraum, in dessen Mitte jene Zitadelle errichtet worden war. Wo auf der Oberfläche grüner Rasen wuchs, fand sich hier unten nur ödes Gestein und fauliges, braunes Moos, glitschig von all der Feuchtigkeit, die der nahe Fluss durch den Felsen drückte. Ansonsten ähnelten die Gebäude dem »echten« Tower von London nur allzu sehr.
    Es gab sowohl Beauchamp als auch Bloody Tower, die Kapelle St. Peter ad Vincula, und natürlich die Residenz Master Lycidas’: den White Tower, dessen vier Türme sich majestätisch der Höhlendecke entgegenreckten.
    Kaltes, schmutziges Wasser tropfte ununterbrochen vom Felsgestein der Decke auf die Zitadelle herab und tauchte die Szenerie in feine Nebelschwaden.
    Dies war der Tower von London in der uralten Metropole.
    Errichtet von den Regenten in alter Zeit.
    Die Rabengardisten geleiteten uns zum White Tower, wo wir auf Master Lycidas trafen.
    »Sie werden sich fragen, Wittgenstein«, begann er, »weshalb ich Sie allesamt zu mir gebeten habe.«
    »Ich möchte mich nicht Mutmaßungen hingeben.«
    »Aber, aber«, säuselte Lycidas gönnerhaft. »Weshalb so abweisend?«
    »Fragen Sie nicht!«
    Die Augen des Lichtlords ruhten auf

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