Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
tiefen Schlaf, und ihr Körper erschlaffte.
»Wir sollten keine Zeit verlieren«, schlug ich vor, schulterte das kranke Mädchen und trat, nachdem ich vorsichtig in beide Richtungen des Stollens gespäht hatte, aus dem Alkoven hinaus.
Aurora folgte mir.
So setzten wir einstweilen unseren Weg fort.
Der von dickem Eis überzogene Weg führte uns aufwärts.
Wir passierten hier und da große Höhlen, in denen die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen ihrer mühsamen Arbeit nachgingen, ohne aber von uns Notiz zu nehmen. Missgestaltete Maschinen schnauften und spien heißen Dampf in die klirrend kalte Luft, und scharfe Bohrer frästen sich in die Höhlenwände, erweiterten das Netzwerk der Hölle. Mit blutig geschürften Händen schaufelten die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen den groben Schutt in die Loren, von denen hin und wieder eine an uns vorbeibrauste.
»Ich hätte niemals gedacht«, sagte Aurora nach einiger Zeit unvermittelt, »dass es die Hölle wirklich gibt.«
»Die meisten Menschen leben in ihrer eigenen Hölle. Sie erschaffen sie aus freien Stücken.« Eindringlich musterte ich das Mädchen. »Bedenken Sie, Miss Aurora. Kein Leid ist schlimmer als jenes, das man sich selbst zufügt. Und keine Hölle grausamer als jene, die man sich mit eigener Hände Kraft erbaut.«
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen hatten an Zahl gewonnen, während wir uns langsam, wie ich doch inständig hoffte, dem Ausgang näherten. Zu Anfang war es uns nicht einmal aufgefallen, doch nach und nach drängten sich immer mehr von den armen Gesellen in den Gängen und Stollen herum. Sie schoben Loren oder standen einfach nur tatenlos herum, drehten apathisch die Köpfe, wenn wir vorübergingen, und schlurften uns kaum merklich hinterher.
»Die folgen uns doch«, flüsterte Aurora nach einer Weile.
Mürrisch gab ich ihr Recht. »Möglich.«
Wir beschleunigten unsere Schritte und blieben wachsam.
»Warum gibt es keine Zufälle?«
»Fragen Sie nicht.«
Das Mädchen sah mich erwartungsvoll an.
»Die Dinge fügen sich eben ineinander«, sagte ich. »Alles hat seine Bestimmung. Sie, Miss Aurora, erwählten instinktiv den Malachit, Miss Emily die anderen Steine. Ist es ein Zufall, dass wir nun gemeinsam die Flucht angetreten haben? Dass wir drei zusammen diejenigen Steine mit uns führen, die es mir ermöglicht haben, die Chakras zu heilen? Wäre Miss Emily nicht gestochen worden, wären wir vielleicht noch in der Höhle geblieben und den Limbuskindern zum Opfer gefallen. Wer weiß? Die Dinge fügen sich ineinander. Und glauben Sie mir, alles, aber auch wirklich alles, folgt seiner Bestimmung.«
Damit war zumindest dieses Thema erledigt.
Aurora stellte keine weiteren Fragen mehr.
Vermutlich suchte sie in ihrer eigenen Erfahrungswelt nach Anhaltspunkten, die meine These bestätigen oder widerlegen konnten.
Hauptsache, sie hielt den Mund.
Denn langsam erschöpften sich auch meine Kräfte.
Emilys schlaffer Körper lag mir schwer auf der Schulter.
Selbst wenn ich das Gewicht verlagerte, brachte mir das keine dauerhafte Erleichterung.
Dann erreichten wir eine Wegkreuzung.
Und blieben stehen.
Gezwungenermaßen sozusagen.
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen versperrten uns den Weg. Hunderte von ihnen füllten die Korridore in alle Richtungen, und selbst der Gang hinter uns hatte sich in Windeseile derart angefüllt, dass an einen Rückzug ebenso wenig mehr zu denken war wie an ein Weiterkommen.
»Was wollen die von uns?« Aurora drängte sich an mich.
»Fragen Sie nicht!«
Die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen standen regungslos da.
Wartend.
Lauernd.
Vorsichtig tat ich einen Schritt nach vorne, und die Masse an Kindern reagierte augenblicklich, einem Schwarm kleiner Fische gleich. Sie versperrten uns den Weg, und es sah nicht so aus, als fände sich eine Möglichkeit, sie zu überlisten oder gar zu überwinden.
Eine Stimme erklang.
Heraufbeschworen aus hunderten von Kindermündern.
»Seien Sie meine Gäste.« Hunderte heiserer Stimmen, die jahrelang nicht mehr gesprochen hatten, verschmolzen zu einer rauen Stimme, die fremd und kalt in unseren Ohren dröhnte. »Die Kinder werden Ihnen den Weg weisen.« In den unzähligen Spiegelscherbenaugen sahen wir uns selbst, wie wir ratlos und irgendwie verloren dastanden.
Dann wurde es still.
Für einen Moment.
Das Schlurfen von hunderten in zerrissenen Schuhen steckenden Füßen hallte von den Wänden wider, als sich die Kinder mit den Spiegelscherbenaugen in
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