Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
bedauerlich, aber … nun ja, immerhin haben wir uns alle hier eingefunden. Letzten Endes.«
Ich fragte mich, ob er wieder mit Engelszungen sprach.
Lycidas fuhr fort: »Wie jeder gute Erzähler sollte auch ich am Anfang beginnen. Doch nein, vielleicht vorab einige Erklärungen, was meine Person angeht. Ich habe mich Ihnen als Lycidas vorgestellt, oder auch als Lucia del Fuego, was dem altmodischen Lucifer nicht unähnlich ist, wie Sie so treffend herausgefunden haben. Einst schrieb ich als Milton, forschte als Dee, eroberte als Claudius. Doch was sind schon Namen? Lange bevor die Menschen den Dingen Namen gaben, war ich ein Engel. Die Welt war mir untertan, doch dann verstieß man mich. Sie alle kennen die alten Geschichten vom gefallenen Engel Lucifer.«
Die Kinder lauschten gespannt seinen Worten.
»Als der Himmel brannte, bin ich hierher gekommen. Nach London, das damals noch Londinium hieß. Die Stadt der Schornsteine und die Stadt unter der Stadt wurden meine neue Heimat. Ich lebte im Verborgenen, denn die Menschen sind misstrauisch allem Fremden gegenüber.«
Ich versuchte das Lügengespinst zu durchdringen.
»Pairidaezas Stock half mir, die Gestalt zu bewahren. Denn viele Eigenschaften der Engel waren mir genommen worden. Doch benötigte ich dazu, wie ich schnell herausfand, etwas sehr Kostbares.«
»Die Unschuld von Kindern.«
Lycidas wurde ernst. »Lange Zeit habe ich nach anderen Möglichkeiten gesucht, doch letztlich endeten meine Forschungen immer an diesem einen Punkt. Der Lebensbaum wollte von kindlicher Unschuld genährt sein. Das ist der Preis für das ewige Leben. Also musste ich Opfer bringen.«
»Sie töteten all diese Kinder«, sagte Emily vorwurfsvoll.
»Ich beraubte sie ihrer Seelen«, verbesserte Lycidas sie. »Ihre Körper lebten fort.«
»Als leere Hüllen.«
»Was soll ich sagen? In dieser Hinsicht fällt es mir schwer, mein Tun zu entschuldigen. Doch, nun ja, diesen Preis zu zahlen war mir die Sache wert. Glauben Sie mir, liebe Miss Emily, wenn Sie die Welt aus dem Blickwinkel der Unsterblichkeit betrachten, so wird vieles unbedeutend.«
»Es bleibt dennoch Unrecht.«
»Es ist, was es ist. Jedes Ding handelt entsprechend seiner Natur. Demzufolge gibt es keine Unterscheidung in Gut und Böse. Nur die Notwendigkeit. Ja, sie allein. Mithilfe des Wyrms gelang es mir, die Unschuld der Kinder zu gewinnen und dem Lebensbaum zuzuführen. Pairidaezas Stock wuchs und gedieh und schenkte mir die Früchte, die ich so dringend benötigte.« Er seufzte melancholisch. »Glauben Sie etwa, ich hätte dies alles genossen? Glauben Sie nicht, dass mich das Leid der Kinder rührte? Manchmal schien der Preis, den ich zu zahlen bereit war, unendlich hoch zu sein. Und doch bin ich in jedem Augenblick meines Lebens dazu bereit gewesen, ihn zu zahlen. Denn hatte man mich nicht dazu genötigt? Bin ich etwa aus freiem Willen zu dem geworden, was ich bin?«
Keiner der Anwesenden gab ihm eine Antwort.
»Mitnichten.« Lycidas sprang von seinem Platz auf. »Nein, sage ich Ihnen. Denn ER hat mich zu dem gemacht, was ich bin.« Mit ausgestreckter Hand deutete er himmelwärts. »ER und seine engstirnigen Regeln. Der Träumer, der die Welt einst träumte, wie die Welt ihn heute träumt. Glauben Sie mir, er lacht sich da oben halb tot über das, was hier passiert. ER erschuf die Menschheit nach seinem Ebenbild, und Sie alle wissen, wie fehlerhaft die Menschheit ist. Nun frage ich Sie – was sagt uns das über IHN? Zuerst stellt er die Regeln auf. Du darfst etwas anschauen, aber bloß nicht anfassen; du darfst etwas berühren, aber nicht schmecken; du darfst etwas schmecken, aber nicht genießen; du darfst etwas genießen, musst dich aber gleichzeitig dafür schämen und dir Asche aufs Haupt streuen und dich anschließend fühlen wie der letzte Dreck. Und warum dies alles? Weil die Menschen sind wie ER. Fehlerhaft. Genusssüchtig. Emotional. ER sieht in einen Spiegel, wenn er die Menschheit betrachtet, und das, was er sieht, gefällt ihm nicht.« Lycidas’ Stimme wurde lauter und zorniger. »Weil es nicht perfekt ist. ER wäre so gerne perfekt. Doch kein Lebewesen ist perfekt. Nicht einmal die Götter.« Mit wehendem Mantel durchschritt Lycidas den Raum. »Und wehe dem Engel, der IHM widerspricht. Wehe demjenigen, der Kritik äußert.« Er kam auf mich zu und sah mich eindringlich an. »Wissen Sie, was da oben geschieht, Wittgenstein?« Er spie das Wort aus, als enthalte es Gift: »Zensur. Meinungsfreiheit –
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