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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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sie verwirrt und zitternd auf dem menschenleeren Bahnsteig.
    Ein schwülwarmer Hauch abgestandener Luft wehte ihr ins Gesicht, als der Zug den Bahnhof verließ. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie nun endgültig allein war. Noch einsamer, als sie es im Waisenhaus gewesen war. Sie dachte daran, dass sie ihren Teddy in all der Hektik dort zurückgelassen hatte, und hoffte, dass sich Aurora seiner annehmen würde.
    An wen sollte sie sich jetzt wenden?
    Wo sollte sie die Nacht und, noch viel wichtiger, die nächsten Tage verbringen? Es war Winter und bitterkalt. Mittlerweile machten sich Zweifel in ihrem Herzen breit, dass die Entscheidung, aus dem Waisenhaus zu fliehen, vielleicht doch eine übereilte gewesen war. Die Stadt war mit Sicherheit kein Platz für ein kleines Mädchen wie sie. Unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte, stand sie einfach nur da. Schließlich setzte sie sich auf eine der Plastikbänke und fiel gedankenverloren und erschöpft in tiefen Schlaf.
    Sie träumte von ihrem Stoffbären und Aurora und der kleinen Mara und dem Werwolf, der sie aus dem Waisenhaus geraubt hatte, von den glühenden Augen und dem tiefen Knurren. Der Geruch erinnerte an das nasse, zottige Fell eines großen Hundes, und als Emily aus dem Schlaf aufschrak, blickte sie in das Gesicht eines Wolfes, der über ihr stand und triumphierend auf sie herabsah.
    »Dachtest, du könntest Larry entwischen«, hörte sie eine tiefe Stimme. »Da haste dich aber schwer jetäuscht, kleine Missy!«
    Emily riss die Augen auf und kreischte schrill. Das Wesen stand nur da und grinste hämisch. Es war tatsächlich ein Wolf, oder vielmehr ein Junge mit einer langen spitzen Nase und starkem Haarwuchs im Gesicht und auf den Handrücken. Er trug eine alte schmuddelige Jeansjacke mit Pelzkragen.
    »Keine Menschenseele entkommt Larry«, knurrte der Junge. »Iss nie nich passiert, dat kannste mir glauben. Iss nich passiert in hunnert Jahrn, sach ich ma.« Er entblößte eine Reihe scharfer Zähne, und wenn er so grinste, dann verschwand alles Menschliche aus dem spitzen Gesicht. »Biss ne Zeugin. Iss nich gut, wenn ma Larry jesehen hat bei dem, wassa so macht. Gar nich gut. Ers rech nich für den, der ’n jesehen hat!«
    »Lassen Sie mich in Ruhe!«, schrie Emily und wich ängstlich vor der Gestalt zurück, die ihre Reaktion amüsiert beobachtete.
    Der Bahnsteig war verlassen, und Emily hörte nur ihren eigenen Schrei von den Tunnelwänden widerhallen. Dabei war es bereits kurz nach fünf Uhr, wie sie der Anzeigetafel entnehmen konnte, und der Tag war ein Mittwoch. Wo blieben die Passanten, all die Menschen, die auf ihrem Weg zur Arbeit die U-Bahn nahmen? Emily rutschte so weit wie möglich auf der Bank nach hinten und schaute zum nächstgelegenen Ausgang, doch der Wolfsjunge versperrte ihr den Weg dorthin. Sie würde es nicht schaffen, diesem Wesen davonzulaufen. Was sollte sie nur tun? Nun bereute sie es wirklich, aus dem Waisenhaus geflohen zu sein. Sie hatte Angst, und ihr kindlicher Verstand konnte sich in tausend Variationen ausmalen, was dieses Wesen mit ihr anzustellen vermochte.
    Dann hörte sie eine vertraute Stimme.
    Miss Laing, Sie müssen mir folgen
.
    »Hyronimus?«, fragte Emily verdutzt und blickte in Richtung der Stimme, die ihren Ursprung unter der Bank zu haben schien.
    Der Wolfsjunge tat es ihr gleich und dies mit einer schnellen, ruckartigen Kopfbewegung, die erahnen ließ, wie flink er zu reagieren vermochte.
    Tun Sie, was ich sage!
    Es wimmelte plötzlich überall von Ratten.
    Aus den Öffnungen der Luftschächte oben an der Decke kamen sie und rieselten auf den Bahnsteig herab, krochen raschelnd aus den Mülleimern und ergossen sich aus den Löchern in den gekachelten Wänden. Sie strömten von den Schienen auf den Bahnsteig und bildeten in Windeseile einen Teppich umherwuselnder pelziger Leiber, die quiekten und fauchten und sich wie kleine Helden auf den Wolfsjungen stürzten.
    »Dreckige Drecksviechah«, knurrte der Wolfsjunge zornig und sprang instinktiv mit einem Satz in die Höhe. Emily bemerkte, dass er keine Schuhe trug und dass dort, wo normalerweise seine nackten Füße hätten sein müssen, große Pranken mit langen, vergilbten Krallen aus der zerrissenen Jeans lugten. Der Rattenstrom reagierte schnell wie ein Schwarm kleiner Fische und folgte dem Wolfsjungen. Wie wild stürzten sich die Ratten auf ihn. Wütend und mit einem boshaften Heulen hieb der Wolfsjunge auf die angreifenden Ratten ein, riss viele kleine

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