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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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aufzupassen?
    Dann klärten sich plötzlich ihre Gedanken.
    All diese Fragen würde sie später beantworten können – oder auch nicht. Wenn der Tumult sich gelegt hätte, würde der Reverend sich fragen, was sie, Emily Laing, in der Kammer zu suchen gehabt hatte. Man würde sie bestrafen, zweifelsohne. Mr. Meeks würde sie auf Geheiß des Reverends in die Dunkelkammer unten im Kellergewölbe sperren, wo ihre einzige Gesellschaft Spinnen und anderes krabbelndes Getier sein würden, und das für mehrere Tage.
    »Nummer Neun!«, hörte sie Dombey junior schreien. Er kam die enge Treppe heruntergepoltert. »Du bist in die Kammer eingebrochen, wie ich gehört habe.« Er war hinter ihr her. »Was hast du dir dabei gedacht, du kleine Missgeburt? Und was hast du mit dem Verschwinden von Nummer Einunddreißig zu tun?«
    Emily dachte nicht einmal nach.
    Rannte einfach los.
    »Bleib stehen, kleines Miststück«, rief ihr Verfolger. »Niemand verlässt das Haus ohne Erlaubnis. Ich verbiete dir abzuhauen!« Gleichzeitig zu schreien und zu laufen fiel ihm sichtlich schwer.
    Emily erreichte das Erdgeschoss und rannte zur Tür, rüttelte am Schloss und stellte erschrocken fest, dass sie verriegelt war.
    »Steh still!«
    Ihr Verfolger war ihr auf den Fersen.
    Es gab aber noch einen Weg nach draußen.
    Emily flitzte die Kellertreppe hinunter, wo sie auf eine erschrockene Aurora Fitzrovia traf.
    »Keine Zeit für Erklärungen«, keuchte Emily. »Ich werde abhauen.«
    Ihre Freundin blickte überrascht drein.
    »Wo willst du denn hin?«, fragte Aurora.
    »Einfach nur weg«, antwortete Emily.
    »Was ist da oben passiert?«
    Emily war sich bewusst, wie verrückt es klang. »Ein Werwolf hat Mara geraubt.«
    »Den Neuzugang?«
    Emily war überrascht, weil sie nicht nach dem Werwolf fragte.
    »Ja.«
    »Was hat das mit dir zu tun?«
    »Ich habe keine Ahnung.« Das war die Wahrheit.
    »Und du wirst zurückkehren?«
    Emily nickte.
    Ergriff kurz Auroras Hand.
    Drückte sie.
    »Ja!«
    Aurora schluckte. »Versprochen?«
    Emily ergriff nochmals die Hand ihrer Freundin und drückte sie fest.
    »Versprochen«, meinte sie.
    Der Augenblick endete viel zu früh.
    Das wütende Geschrei Dombey juniors wurde lauter. Die beiden Mädchen wussten, dass sie sich nun trennen mussten.
    »Lauf«, sagte Aurora zum Abschied, und Emily tat, wie ihr geheißen wurde. Aus dem Waisenhaus zu fliehen beziehungsweise einen Weg hinauszufinden, war niemals das Problem gewesen. Die Entschlossenheit, es zu tun – daran scheiterten die Pläne der meisten Kinder. Jeder hatte Angst vor dem, was nach dem Waisenhaus kommen würde. Doch statt darüber nachzudenken, was ihr wohl bevorstünde, handelte sie; lief, rannte, so schnell ihre Füße sie zu tragen vermochten. Hinab in den Keller. Hinein in die Küche, wo sie sich hastig die alte Jacke überstreifte, die sie immer in den Morgenstunden trug, wenn die ersten Lieferungen eintrafen. Hinauf durch den Lieferanteneingang, dessen Schloss sich jederzeit mit dem Schlüssel öffnen ließ, der neben Mrs. Philbricks Herd an der Wand hing.
    Und hinein in die eisig klirrende Nacht.
    Emilys Atem vermischte sich mit dem dichten Nebel, der ihr sofort die Orientierung nahm. Da waren die hohen Mauern des Waisenhauses über ihr, die matt glimmenden Straßenlaternen vor ihr. Das Labyrinth des nächtlichen London hieß sie willkommen. Die Angst hatte Besitz von Emilys kleinem Herzen ergriffen und ließ sie schneller und schneller laufen. Natürlich hatte sie noch die Fratze des Wesens vor Augen, das Mara gestohlen hatte. Irgendwo hier draußen musste sich die Kreatur noch herumtreiben.
    Doch wollte Emily in diesem Augenblick nur davonlaufen.
    Weg vom Reverend und seinem Waisenhaus. Weg von ihrem bisherigen Leben. All das wollte sie hinter sich lassen. Und als sie in den letzten Zug sprang, der Rotherhithe in dieser Nacht verließ, die Türen surrend hinter ihr zugingen und sie nach Luft schnappend und zitternd in dem warmen, menschenleeren Abteil in einen Sitz sank, da schloss sie zum ersten Mal seit Stunden die Augen und hoffte inständig, das Richtige getan zu haben.

Kapitel 2
Wittgenstein
    Nicht einmal die Ratten konnten die kleine Emily Laing vor allem Übel bewahren, wenngleich sie es – beherzt wie sie nun einmal sind – versuchten. Die U-Bahn brachte das kleine Mädchen bis nach Whitechapel, wo sie orientierungslos durch die Tunnel irrte und schließlich die grüne Linie bis hinauf nach Notting Hill Gate bestieg. Dort angekommen stand

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