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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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aus ihren kindlichen Träumen aufstiegen wie Blasen aus einem sirupartigen Trunk. Zweifelsohne hatte das arme Kind Träume der schlimmen Art. Die Elfen haben diesbezüglich eine Redensart: Man wandelt in den Schatten.
    Hin und wieder schaute ich nach der Kleinen. Sie lag zusammengekauert in meinem Bett und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Emily Laing wanderte ganz tief in den Schatten. Die Augenlider zuckten unruhig. Das winzige Glasauge lag verloren auf dem Tisch neben dem Bett. Ich gestand es mir nur ungern ein, doch es gab keinerlei Zweifel daran, was ich dem Mädchen gegenüber empfand. Ich verspürte Mitgefühl.
    Später, als sie erwacht und nach einem ausgiebigen Frühstück langsam wieder zu Kräften gekommen war, stellte sie viele Fragen. »Wer sind Sie?«, machte den Anfang.
    »Mortimer Wittgenstein«, stellte ich mich erneut vor. »Und Sie sind Miss Emily Laing aus Rotherhithe.«
    Argwöhnisch begutachtete sie mich. »Sie haben mich also in der U-Bahn gefunden und hierher verschleppt?«
    »Allem Anschein nach benötigten Sie Hilfe.« Neigen Kinder zu diesen dramatischen Formulierungen? »Zudem habe ich Sie nicht verschleppt, sondern in mein Haus gebracht. Immerhin sind Sie hier sicher. Vorerst zumindest.« Um Missverständnisse zu vermeiden, betonte ich: »Sie sind mein Gast. Nichts anderes.«
    Emily nickte ertappt. »Ich wollte nicht unfreundlich sein.«
    »Sie sind ein Kind, und Kinder sind zuweilen unfreundlich.«
    »Die Dinge, die ich erlebt habe …«, flüsterte sie und scheute sich, den Satz zu beenden.
    »Sind genau so geschehen«, half ich ihr. »Sie haben keine Halluzination gehabt.«
    Nachdenklich musterte sie mich.
    Die Ratte hätte uns nicht allein lassen sollen. Ich fühlte mich unwohl in der Gegenwart von Kindern. Unwohl und unsicher. Doch hatte Lord Brewster noch einige Dinge von höchster Wichtigkeit zu erledigen gehabt. Außerdem war die kleine Emily in meinem Haus in Marylebone gut aufgehoben.
    »Was wollen Sie von mir?« Misstrauisch ließ sie mich nicht aus den Augen.
    Mich zur Geduld zwingend nippte ich an meinem Kräutertee. »Ich möchte Ihnen helfen.«
    »Aber warum? Sie sind doch ein Fremder, und obendrein sehen Sie nicht sehr freundlich aus.«
    Ach?
    Hätte ich etwa freundlicher aussehen sollen?
    »Lord Brewster bat mich darum. Und einer Ratte schlägt man keine Bitte aus.«
    Emily sah aus dem Fenster hinaus zum Regent’s Park, wo die kargen Bäume sich im Wind wiegten und der eisige Hauch des Winters die Äste mit feinem Raureif bedeckt hielt. Die sanfte Wärme des Kamins ließ den Winter vor der Tür. Überall stapelten sich Bücher: auf dem massigen Schreibtisch, in den hohen Regalen, auf den dicken Teppichen und den knarzenden Dielen. Dazwischen wucherte unbezähmbares Pflanzengewächs.
    »Da, wo ich herkomme, spricht man normalerweise nicht mit Ratten.«
    »Und da, wo ich herkomme, tut man es«, antwortete ich.
    »Warum kann ich verstehen, was die Ratten sagen?«
    »Warum sollten Sie es nicht können?«
    Seufzend gestand ich mir ein, dass ich es mit einem Kind zu tun hatte, das keinerlei Ahnung hatte von der Welt, in der es lebte. Seine Lordschaft hatte mich natürlich mit dem Rotschopf in der Gewissheit allein gelassen, dass ich mit ihr umzugehen wüsste.
    Emily wirkte auf einmal amüsiert. »Weil Menschen normalerweise nicht mit Ratten sprechen können?«, schlug sie einen möglichen Grund vor.
    Wie Recht sie hatte.
    »Natürlich können sie das nicht. Aber
Sie
können es. Und ich ebenso. Nun sagen Sie mir, zu welcher Schlussfolgerung Sie diese Aussage verleitet?«
    »Sie sind kein Mensch!«
    »Womit wir schon zu zweit wären.«
    Ich wartete ihre Reaktion ab.
    Langsam stand sie auf und durchquerte den Raum. Betrachtete die Landschaftsgemälde an den Wänden und blieb vor dem mannsgroßen Globus stehen, der die gesamte Ecke neben dem Kamin vereinnahmte. Mit leicht zitternden Fingern berührte sie die glatte hölzerne Oberfläche der Weltkugel, und ich fragte mich, ob ihr auffiel, dass die dort dargestellte Welt eine etwas andere Beschaffenheit hatte als die ihr bekannte. Geistesabwesend drehte sie den Kopf und sah mich mit ihrem hellen Auge an. Es war nicht schwer, Unsicherheit und Verwirrung darin zu erkennen.
    »Sie sind kein Mensch?«
    »Nicht direkt.«
    »Sie sehen aber wie einer aus.«
    »Nun ja, ich bin zur Hälfte ein Mensch.«
    »Und die andere Hälfte?«
    »Elfisch.«
    Skeptisch zog sie eine Augenbraue nach oben, was sie in diesem Moment weitaus

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