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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Bank begleitet, wo wir das Flussufer entlang bis hin zum steinernen Löwen an der Westminster Bridge Road geschlendert waren. Penner hockten im Schatten der großen, majestätischen Skulptur, die Emily unweigerlich an den Scharlachroten Ritter hatte denken lassen. Manchmal, so wusste sie, war Stein lebendiger, als es den Anschein hatte. Allzeit führte sie die Steine mit sich, die ich ihr in King’s Moan gegeben hatte. In einem bunten Stoffbeutel, den sie um den Hals trug.
    »Er fühlt sich warm an«, hatte sie gesagt und eine Hand an den Sockel gelegt, auf dem der Löwe stand.
    Im Sonnenlicht sah es so aus, als öffne das riesige Tier unmerklich die Augen, um auf das kleine Mädchen herabzusehen. Doch nach einem kurzen Blinzeln war dieser Eindruck verschwunden, und die nach Urin und Alkohol stinkenden Stadtstreicher im Schatten des steinernen Löwen bettelten lautstark um Almosen.
    »Ist er lebendig?«
    Ich hatte gelächelt. »Fragen Sie nicht!«
    Emily Laing war auf dem besten Weg, eine Alchemistin zu werden. Sie begann das Wesen der Dinge zu erahnen. Und manchmal spürte sie, dass da mehr existierte als kalte Materie.
    Den Löwen hinter uns lassend – und ebenso die uns penetrant bebettelnden Restefresser – waren wir letztlich in den Jubilee Gardens gestrandet, wo wir uns im Schatten zwischen den großen Bäumen auf der Wiese niederließen. Hätte sich hinter dem saftigen Grün nicht der Betonklotz des Shell Towers in den Himmel geschoben, wäre man fast versucht gewesen, die Stadt zu vergessen.
    »Der bedeutendste Mensch ist immer derjenige, der einem gegenübersteht«, hatte Emily, sich auf das Zitat beziehend, geflüstert und die Brise erschnuppert, die vom Fluss herüberwehte. »Wie damals in der Metropole?«
    »Erklären Sie es mir!«
    »Als wir beim Scharlachroten Ritter voneinander getrennt wurden, da haben Sie sich keine Gedanken um uns Kinder gemacht, nicht wahr?«
    »Was verleitet Sie zu dieser Annahme?«
    »Es wäre nicht von Nutzen gewesen.«
    Ihr Verstand wurde immer schärfer.
    »Aurora und Sie waren in die Tiefe gestürzt, und Master Micklewhite benötigte dringend meine Hilfe. In dieser Situation war der bedeutendste Mensch mein Gegenüber, Master Micklewhite. Nicht, dass ich mir keine Gedanken um Sie beide gemacht hätte. Doch habe ich es vermieden, mich diesem Gedanken hinzugeben. Ich habe ihn mir erst gar nicht bewusst gemacht. Stattdessen habe ich mich auf die Gegenwart konzentriert. Auf Master Micklewhite und mich selbst.«
    Emily brachte es auf den Punkt: »Um uns zu helfen, mussten Sie zuerst sich selbst helfen.«
    »Eine einfache Regel, nicht wahr? Höchst banal sogar. Und doch nicht ganz so einfach umzusetzen, wenn einem Pfeile um die Ohren schwirren und ein steinerner Ritter zum vernichtenden Schlag ausholt.«
    Ein Zug ratterte über die Hungerford Bridge hinüber zum Charing Cross. Emilys sternenklares Auge war den schmutzigen, mit Graffiti überzogenen Wagen gefolgt. Irgendwo weiter nordwärts, das wusste sie, würde der Zug im Untergrund verschwinden, in dem verlassene und vergessene Bahnhöfe lagen, wo Menschen und Restefresser und Tunnelstreicher sich eine eigene Welt errichtet hatten. Wenn sie an die Dunkelheit dachte, die dort unten herrschte, dann kamen die Bilder, die sie heraufbeschwor, den Erinnerungen an unsere Lehrstunden nahe.
    Emily Laing würde niemals jene seltsamen Lektionen vergessen, mithilfe derer sie Konzentration zu üben gezwungen worden war.
    »Der Augenblick zählt, und der schlimmste Feind, dessen wir uns erwehren müssen«, hatte ich ihr schon sehr früh zu erklären versucht, »ist die Angst selbst.« Die Geräusche des Sommers vermischten sich mit dem fernen Lärm des Feierabendverkehrs drüben auf der Westminster Bridge.
    Emily, das war unschwer zu erkennen, erinnerte sich jenes Abends.
    Furchtsam hatte mich das Mädchen damals beäugt.
    Wir waren hinausgefahren nach Battersea, nahe Chelsea. Es war im Frühling gewesen, nur drei Monate, nachdem Lycidas gebannt worden war, und wir hatten den Old English Garden im Battersea Park aufgesucht, wo sich um diese Jahreszeit und vor allem diese Uhrzeit keine Menschenseele mehr hin verirrte. Die vielen Wasservögel, die sich im Sommer auf dem See tummeln, waren noch nicht wieder aus den wärmeren Gefilden zurückgekehrt, und die Tretboote torkelten unlustig und verlassen wie weggeworfene Pappschachteln auf dem trüben Wasser, das sich im kalten Wind, der von der Themse herüberwehte, unruhig kräuselte und

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