Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
Sicherheit.
Einmal sagte sie zu Aurora: »Ich werde niemals so normal sein wie du es bist.«
Dessen war sich Emily gewiss.
Was sie in bittere Tränen ausbrechen und schluchzend in den Armen ihrer Freundin einschlafen ließ.
Daniel und Betsy Quilp hatten frühzeitig erkannt, dass Emily sich mehr Gedanken um das Auge machte, als sie ihnen gegenüber zuzugeben bereit war. Wenngleich Emily auch überglücklich war, ein Zuhause gefunden zu haben, so neigte sie doch dazu, sich anderen Menschen gegenüber eher zu verschließen. Sie mochte die Quilps und zeigte sich gehorsam und dankbar für die Zuwendung, die die beiden ihr zuteil werden ließen. Doch behielt sie ihre tiefsten Befürchtungen und Gedanken am liebsten für sich.
»Es geht sie einfach nichts an«, war Emilys Meinung dazu.
Punktum.
Trotz aller Verschlossenheit machte sie schnelle Fortschritte in der Ausbildung zur Trickster. Es oblag mir, die Fähigkeiten des Mädchens zu schulen, und zu diesem Zwecke trafen wir uns täglich in den Räumen meines Anwesens in Marylebone, wo ich Emily Laing in die Kunst der Meditation einführte. Diese Art der geistigen Entspannung ist wichtig, um die mentalen Fähigkeiten einer Trickster richtig einsetzen zu können. Emily erwies sich als überaus gelehrige Schülerin. Fast schon verbissen absolvierte sie ihre Übungen und verlangte immer noch nach neuen Herausforderungen.
Sie verhielt sich vorbildlich.
Vormittags besuchte sie gemeinsam mit Miss Fitzrovia die »Whitehall Schule für Höhere Töchter und Söhne«, und Miss Monflathers, die Schulleiterin, war voll des Lobes bezüglich der beiden Mädchen. Die Nachmittage verbrachten die Freundinnen oft im Lesesaal der Nationalbibliothek, wo sie ihre Hausaufgaben machten und zudem einmal pro Woche von Maurice Micklewhite in die Geschichte der uralten Metropole eingeführt wurden.
Emily Laing und Aurora Fitzrovia waren wirklich die besten Freundinnen, die ihr neues Leben gemeinsam genossen und die Chance nutzten, die das Leben ihnen geboten hatte.
Niemand hätte den Verrat, den Emily begehen würde, voraussehen können.
Als es so weit war, traf es uns alle unverhofft.
Und jetzt müssen wir versuchen, das Schlimmste zu verhindern.
»Es tut mir so Leid«, hatte Emily geflüstert und dabei am ganzen Körper gezittert.
»Bleiben Sie hier«, hatte ich sie tags darauf gebeten und ihr versichert: »Ich werde im Raritätenladen vorbeischauen und den Jungen herschicken.« Dann hatte ich ihr heißen Tee gebracht, den sie dankbar mit verheulten Augen entgegengenommen hatte.
Jetzt eile ich durch die Stadt.
Wieder einmal liegt Schnee. Die Welt erstarrt vor unseren Augen. Müde verlasse ich die U-Bahn am Leicester Square. Eisiger Wind umfängt mich, die Abgase der Autos bilden wirbelnde Nebel, die dicht über dem nass glänzenden Asphalt tänzeln. Den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, stapfe ich meines Weges.
Ich muss jemanden treffen.
Unterwegs mache ich im alten Antiquitätengeschäft am Cecil Court Halt und verlange nach dem Jungen, der blass wird, als er die Neuigkeiten erfährt. Ich schicke ihn zu meinem Anwesen nach Marylebone, wo Emily hoffentlich auf ihn wartet. Ich sage dem Jungen, dass ich ihm vertraue, was ihn offensichtlich freut, wenngleich sein Lächeln besorgt und traurig ist.
Gut so. Er hat den Ernst der Lage erkannt.
Es gibt keine Zufälle, denke ich, als ich die Charing Cross Road hinabeile.
Ich betrete die Nationalgalerie vom Trafalgar Square aus.
Schnellen Schrittes begebe ich mich in den Ostflügel. Vor dem
Heuwagen
, dem berühmten Bild von John Constable, werde ich bereits erwartet.
Die bleiche Frau erhebt sich von ihrem Platz auf der Besucherbank und kommt auf mich zu. Das blonde Haar ist streng zusammengebunden. Sie trägt Mantel und Handschuhe. Ein schmaler Mund verzieht sich zu einem Lächeln. Kaum verwunderlich, dass sich die Kinder im Waisenhaus vor diesem Lächeln fürchteten.
»Sie wirken besorgt, lieber Wittgenstein«, begrüßt sie mich.
Mürrisch antworte ich: »Fragen Sie lieber nicht.«
In der Tat werden wir viel zu besprechen haben. Ich betrachte kurz das Gemälde an der Wand. Licht und Schatten eines typischen englischen Sommertages. Dann berichte ich der einstmaligen Madame Snowhitepink von den schlimmen Neuigkeiten der Stunde. Und beginne mich bei jedem meiner Worte zu fragen, wohin uns all dies führen wird.
Kapitel 2
Trickster
Mitten in der Nacht, als Aurora bereits eingeschlafen war,
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