Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
stand Emily noch einmal auf. Sie zog Aurora die Decke über die frei gestrampelten Füße und hockte sich dann, die Beine angewinkelt, neben den Heizkörper unter dem Fenster, das einen Blick auf das nächtliche London gewährte. Fast ein Jahr lebten Emily und Aurora nun bei den Quilps, und wenn Emily am Frühstückstisch kauerte und mürrisch ihr Müsli schlürfte, kam es ihr manchmal so vor, als sei es niemals anders gewesen. In letzter Zeit stand sie oft des Nachts auf und verweilte an ihrem Platz unter dem Fenster, um über ihr Leben nachzudenken.
    Sie mochte die Stille der Nacht. Das leise, blubbernde Geräusch, das die alte Heizung machte, der ruhige Atem ihrer schlafenden Freundin und die fernen Geräusche der Stadt ließen ihre Gedanken auf Reisen gehen. Nachts lag der glatte, runde Mondstein, der tagsüber in ihrer Augenhöhle steckte, auf dem kleinen Schemel neben dem Bett. Sie dachte oft daran, wie sie sich den Stein erwählt hatte, tief unten in jener Taverne in King’s Moan, und daran, wie sie ihr altes Glasauge im Himmel der Urieliten hatte hergeben müssen. Wie seltsam die Welt doch war. Manchmal sehnte sie ihr altes Glasauge herbei, obwohl sie es, als es noch in ihrem Besitz gewesen war, gehasst und verabscheut hatte. Manchmal fühlte sie sich einsam, obwohl sie die liebevollsten Pflegeeltern hatte, die man sich wünschen konnte. Und sie wusste, dass es Kinder gab, die nichts sehnlicher taten, als ihre richtigen Eltern zum Teufel zu wünschen.
    In der Schule, die zu besuchen ihr und Aurora ermöglicht worden war, gab es viele solcher Kinder. Die »Whitehall Schule für Höhere Töchter und Söhne« beherbergte nicht wenige privilegierte Schüler, deren äußerst gut situierte Eltern kaum eine Gelegenheit ausließen, die eigenen Kinder zu erniedrigen. Einige litten unter Schlägen, andere unter den herablassenden Blicken der Väter und dem blasierten, entnervten Verhalten der Mütter, deren einzige Aufgabe darin zu bestehen schien, wichtig zu erscheinen und dem Vermögen, das sie zweifelsohne angehäuft hatten, ein Gesicht zu geben. Anfangs war es den beiden Freundinnen schwer gefallen, sich in diesem Umfeld zu behaupten.
    »Die meisten dieser Kinder«, hatte Aurora festgestellt, »sind viel mehr Waisenkinder, als wir es je waren.«
    Emily ahnte, was sie meinte.
    Die Kinder trugen teure Uniformen, auf deren Jacken das Emblem der Schule prangte, feierlich und Tradition verheißend, die Haare waren säuberlich gekämmt, und die vorzüglichen Manieren zeugten von der besten Erziehung, die man sich denken konnte. Und doch war die Ähnlichkeit zu den Kindern von Rotherhithe nicht von der Hand zu weisen. Da war etwas in den Augen der Kinder, eine Niedergeschlagenheit und Unsicherheit, die Furcht vor übereilter und vor allem ungerechter Bestrafung erahnen ließ. Viele der Kinder zuckten schreckhaft, wenn eine Tür laut zuschlug.
    Es war fast so, als sei dies eine lichtdurchflutete und gediegen gestaltete Version des Waisenhauses.
    »Mit nur einem Unterschied«, gab Aurora zu bedenken.
    »Der wäre?«
    »Wir dürfen nach dem letzten Klingeln nach Hause gehen!«
    Diese beiden Wörter waren es, die sich Emily oft auf der Zunge zergehen ließ.
    Nach Hause!
    In der Tat durften sie nach dem Klingeln nach Hause gehen. Denn die Whitehall-Schule war kein Gefängnis, und Miss Monflathers, die betagte und aristokratisch anmutende Schulleiterin, war zwar streng, jedoch in keinster Weise mit dem niederträchtigen Wesen des Reverends zu vergleichen. In den langen Korridoren munkelten die älteren Schüler, dass Miss Monflathers nicht wenige ihrer jungen Jahre in der Gesellschaft der Black Friars verbracht und diese erst verlassen habe, nachdem sie Wissen und Weisheit erlangt hatte.
    Während einer unserer Meditationsstunden hatte mich Emily darauf angesprochen.
    »Miss Monflathers«, hatte ich dem Mädchen erklärt, »ist alt. Wirklich sehr alt.«
    »Ist sie ein Mensch?«
    »Sie war bereits alt, als Londinium noch jung war.« Mit einem vielsagenden Lächeln hatte ich angemerkt: »Jedenfalls erzählt man sich das.«
    »Es ist also bloß eine Geschichte.«
    »Vieles«, hatte ich ihr zur Antwort gegeben, »ist bloß eine Geschichte.« Und aufgetragen, darüber nachzudenken.
    Was sie selbstredend tat.
    Überhaupt dachte Emily Laing viel nach.
    »Manchmal glaube ich«, hatte sie Aurora gebeichtet, »dass in meinem Kopf niemals Ruhe ist.«
    Da waren all die Geschichten aus den dicken, angestaubten Büchern, die sie meiner

Weitere Kostenlose Bücher