Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
Bibliothek entliehen oder sich bei Maurice Micklewhite unter den Nagel gerissen hatte; jene Geschichten um Waisenkinder und junge umherirrende, vom Schicksal gebeutelte Gestalten aus demjenigen London, das Charles Dickens einst so trefflich beschrieben und in dem ich das Glück gehabt hatte aufzuwachsen; diese trostlosen Geschichten, die sich am Ende dann doch zum Guten wandten. In Emilys Kopf waren diese fiktiven Erzählungen verwoben mit ihrem eigenen Leben, jener Zeit in Rotherhithe und den Tagen danach, jenen Stunden, in denen wir allesamt in die Stadt unter der Stadt hinabgestiegen waren, um den Lichtlord zu treffen.
    Fast ein Jahr gehörten diese Ereignisse nunmehr der Vergangenheit an.
    Wenn Emily nun aus dem Fenster sah, konnte sie kaum glauben, dass dies wirklich die Welt war, in der sie lebte. Drüben in St. Paul’s, im hellen Licht der großen Laterne, fristete der Lichtlord sein Dasein, gefangen und ausgestoßen und unfähig, diesen Bann zu lösen.
    Damals hatte Emily gedacht, alles wäre gut.
    Lycidas gebannt. Das Waisenhaus geschlossen.
    Der Winter vergangen.
    Die Lichter des nächtlichen London funkelten, und weit hinter der Kuppel der großen Kathedrale schlängelte sich der Fluss durch die Dunkelheit. Emily mochte den Fluss, wenngleich manche, wie Miss Monflathers der Klasse geschildert hatte, von der Themse nur als dem »dunklen Fluss« sprachen.
    Die Flussufer sehen an vielen Stellen in der Stadt gänzlich verschieden aus, doch immer sind sie der Ort, wo sich der städtische Stein und das dunkle Wasser in ewiger Umarmung begegnen. Dort vermischen sich der ans Ufer gespülte Unrat von Schiffen und der städtische Abfall. Hier und da findet man rostige Metallplatten, verfaulte Holzplanken, schmutzige Flaschen und verbeulte Büchsen; es gibt Stellen in Rotherhithe, nahe dem Waisenhaus, wo Asche und zerfledderte Stücke dicker Taue sowie Bretterreste rätselhafter Herkunft und Bestimmung angeschwemmt werden.
    Immer schon hatte Emily das Geräusch des Wassers gemocht, das wie verfärbtes Kupfer über die Steine am Embankment schwappt. Ausgemalt hatte sie sich, woher all das angeschwemmte Zeug wohl käme. Waren es einstmals stolze Schiffe gewesen, die irgendwo auf ein Riff gelaufen und deren kümmerliche Überreste nach langer Odyssee nun hier an Land gespült worden waren? Waren die Flaschen von unglücklich Verliebten im Überdruss ins Wasser geworfen worden? Waren die Taue in stürmischem Wetter gerissen? Die Vorstellungskraft des Mädchens kannte keine Grenzen.
    Obschon Emily wusste, dass all diese Dinge ihrer Phantasie entsprangen, so waren es doch gerade diese Augenblicke, in denen sie Ruhe und Entspannung fand. Während der Stunden unserer Meditation lehrte ich sie, dass in allen Dingen ein Funken Schönheit ruht.
    »Manchmal«, hatte ich ihr gesagt, »findet man im Müll schöne Sachen.«
    Den Blick zu schärfen war der erste Schritt gewesen.
    In meinem Anwesen in Marylebone trafen wir uns am Nachmittag eines jeden Tages, um die Übungen zu absolvieren.
    »Einst wurde ein Weiser gefragt, welches die wichtigste Stunde sei, die der Mensch erlebt, und welches der bedeutendste Mensch, der ihm begegnet, und welches das notwendigste Werk sei.« Emily harrte geduldig meiner Antwort, da sie mit Bestimmtheit wusste, dass ich keine Antwort von ihr erwartete. »Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart«, war ich fortgefahren, »der bedeutendste Mensch immer der, der einem gerade gegenübersteht, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe.«
    Sie strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und nippte an ihrem Tee. »Das heißt, wir sollen im Jetzt leben.«
    Kluges Kind!
    »Wir müssen lernen, uns an der Gegenwart zu erfreuen. Dadurch, dass wir fortwährend innere Zwiesprache halten, die Erfahrungen aus der Vergangenheit und die Erwartungen an die Zukunft aufeinander prallen, verpassen wir oftmals die Gegenwart. Die letzten Endes zur Vergangenheit geworden ist, bevor wir sie gelebt haben. Und wir erhoffen uns verzweifelt, dass eine bessere Zukunft vor uns liegt, die mit Leben zu füllen wir aber ebenso unfähig sein werden.«
    »Sie meinen, wir sind unfähig, etwas zu tun.« Sie hatte nachdenklich das Gesicht verzogen.
    »Wir sind im Vergangenen und im Kommenden gefangen.«
    Traurig hatte sie geflüstert: »Wir sind also tot.«
    Sie hatte es erfasst.
    »Deshalb müssen wir uns unserer bewusst werden, kleine Emily.«
    An einem sonnigen heißen Sommertag im Juli hatte ich Emily Laing hinunter zur South

Weitere Kostenlose Bücher