Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
boshafte Wellen gegen die Uferbefestigung klatschen ließ.
»Die Angst zu versagen und die Angst zu sterben, und, ja, sogar die Angst davor, die Angst als solche zu verspüren. Die meisten Menschen werden niemals müde werden, sich diesen Ängsten hinzugeben. Es ist einfach. Es ist der leichte Weg. Doch versperren wir uns so den Blick auf die Wirklichkeit. Wir können den Augenblick nicht genießen, wenn wir uns vor der Zukunft fürchten. Wir können uns nicht auf unser Gegenüber konzentrieren, wenn die Vergangenheit wie ein schaler Beigeschmack unsere Sinne betäubt. Die Angst tötet das Vertrauen. Angst lässt uns nicht im Jetzt, sondern im Vielleicht leben. Letzten Endes lässt sie uns gar nicht leben.«
Emily nickte, denn sie wusste von diesen Ängsten. Jedes Waisenkind kennt diese Verlorenheit, dieses bodenlose Loch, dessen gähnende Leere in den einsamen und kalten Nächten nach den nackten Füßen der Kinder im Schlafsaal zu greifen scheint. Niemand war davor gefeit.
»Man lernt, sich diesen Ängsten zu stellen«, hatte ich ihr erklärt und an die Lektionen gedacht, die Mylady Hampstead einst mir auferlegt hatte. »Man muss sich diesen Gefühlen stellen. Man muss sich ihrer bewusst werden. Nur dann kann man mit ihnen fertig werden.«
»Verzeihen Sie mir die Frage«, hatte mich Emily unterbrochen, »aber ich werde das Gefühl nicht los, als hätten Sie schon wieder eine Ihrer Gemeinheiten im Sinn.«
Dieses Kind!
Sie war auf dem Weg, mich immer besser kennen zu lernen.
Ein fast voller Mond stand am Himmel, und sie musste ganz unwillkürlich an Kensingtons Wölfe denken. An die Begegnung im Regent’s Park. An Lucia del Fuego.
»Da sind wir!«
Wir waren inmitten einer großen Rasenfläche stehen geblieben.
Vor uns klaffte ein frisch ausgehobenes Loch im Boden, gerade einmal tief genug, dass ein kleiner Mensch würde hineinsteigen können. Das Mondlicht schimmerte auf dem hellen Stein im fassungslosen Gesicht des Mädchens. »Das ist nicht Ihr Ernst, oder?«
»Wie meinen Sie das?«
»Genau so, wie ich es sage!«
Emily hatte mir von ihren Ängsten berichtet, schon früher.
Ich wusste von der Nacht im Waisenhaus, als es begonnen hatte, von dem rostigen alten, ungenutzten Lastenaufzug, in den das Mädchen gekrochen war, um in die Kammer des Reverends zu gelangen. Ich wusste von den stürmischen Nächten, in denen der Regen die Dachrinnen des Waisenhauses hinunterströmte und der alte Dombey das Mädchen hinauf auf den Dachboden geschickt hatte, um das Dach auf Löcher und undichte Stellen hin zu untersuchen. Emily war in diesen Momenten mehr als einmal innerlich gestorben. Alles in ihr hatte sich verkrampft. Die gähnende Dunkelheit war es, die sie mehr als vieles andere fürchtete. Und sie hätte schreien können, wenn sie nur an die beengende feuchte Dachkammer denken musste. Trotzdem hatte es ihr oblegen, dieser Aufgabe nachzukommen.
Noch lange Zeit später suchten sie die Enge und die Dunkelheit in ihren Träumen heim. Im Schlaf bewegten sich niedrige Wände auf sie zu, pressten die Welt zusammen, bis Emily kaum noch atmen konnte und hustend erwachte, während Aurora, die neben ihr kniete und beruhigend auf sie einredete, ihr Haar streichelte. In anderen Träumen erlosch das Licht im gesunden Auge des Mädchens, das im Spiegel wie sie selbst ausgesehen hatte. Manchmal verkündete es ihr ein Monokel tragender, glatzköpfiger Arzt, manchmal schlug ihr der tobende Mr. Meeks den Rohrstock wütend in beide Augen, und manchmal erwachte sie einfach nur und konnte nichts mehr sehen. Ihre Hände legten sich dann auf ihr Gesicht, und zitternd ertasteten sie zwei kalte Steine, genau dort, wo einst zwei Augen gewesen waren. Sie rannte durch London, und die Menschen in den Straßen hatten alle Spiegelscherbenaugen, in denen sich Emily erkannte, ein schmutziges, einsames Ding, dessen Gesicht hätte hübsch sein können, jedoch nur mehr eine Fratze war.
»Ich hätte es Ihnen niemals sagen sollen.«
Sie hatte sofort geahnt, worum ich sie bitten würde.
»Wie lange soll ich da drinnen bleiben?«
Wie immer bemühte sie sich redlich, ihre Aufregung vor mir zu verbergen.
Ich hatte ihr wahrheitsgemäß geantwortet: »Etwa eine Stunde.«
Sie war vorgetreten und neben dem Loch in die Hocke gegangen, berührte mit der Hand die feuchte und klumpige Erde, in der noch die Schaufel steckte. »Haben Sie das Loch allein gebuddelt?«
»Nein!«
»Sondern?«
»Sie lenken ab.«
»Natürlich lenke ich ab. Ich will da
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