Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
nicht rein.«
»Also gehen wir wieder zurück nach Marylebone?«
Sie hasste es, wenn ich so reagierte.
Wütend hatte sie sich auf die Unterlippe gebissen. »Natürlich nicht.« Trotzig trat sie einen Erdklumpen in die Nachtschwärze des erdigen Lochs. »Ich werde Ihnen doch nicht die Genugtuung geben, mich kneifen zu sehen.«
Gerne hätte ich ihr aufmunternd zugelächelt, doch war dies nicht der Augenblick für erheiternde Worte gewesen.
Emily Laing würde allein sein dort unten.
Sie wusste das.
Ich wusste das.
Da gab es nichts zu reden.
»Bringen wir es also hinter uns«, hatte sie mich aufgefordert.
Und meine Anweisungen erwartet.
Die ich ihr gab.
»Steigen Sie dort hinein, ziehen Sie das hier über und halten Sie sich dies vor den Mund.« Ich reichte ihr einen abgetragenen Mantel, der viel zu groß für sie war, und dazu eine Motorradmütze mit zugenähtem Sehschlitz, und, das war überhaupt das wichtigste Utensil, einen dicken Gummischlauch, an dessen einem Ende das Mundstück eines handelsüblichen Inhalators befestigt war. »Sie werden mühelos ein- und ausatmen können.«
»Und wenn ich da unten bin«, sie warf einen Blick auf die Schaufel, die aus dem großen Erdhaufen ragte, »dann buddeln Sie mich ein, richtig?!«
»Je eher Sie dort hinuntersteigen, desto eher können wir hier verschwinden.«
»Wo werden Sie sein, wenn die Würmer mich annagen?«
»Fragen Sie nicht!«
»Tu ich aber doch!«
»Ich werde hier oben über Sie wachen.«
Und dann die wichtigste Frage überhaupt: »Wofür soll das alles gut sein?« Gerade hatte ich ihr antworten wollen, als sie aufgebracht hinzufügte: »Und jetzt sagen Sie mir bloß nicht, ich soll nicht fragen!«
»Sie müssen sich in ruhigem Verweilen üben, und wenn Sie spüren, wie Ihnen die Angst vor der Enge und der Dunkelheit in die Eingeweide kriecht, dann stellen Sie sich ein Gefäß vor, in das Sie die Angst einschließen, die Sie wie eine knorrige Wurzel umrankt.«
»Was passiert, wenn ich panisch werde?«
»Konzentrieren Sie sich, und es wird nichts geschehen.«
»Sie haben gut reden.«
»Ich habe das alles schon hinter mir. Damals war ich in Ihrem Alter, Miss Emily, und es war eine Rättin, die mich hinunter in das Loch schickte.« Eigentlich war es eine Höhle gewesen. Ein steinernes Gewölbe, das erfüllt war vom Tosen der nahen Brandung. »Mylady Hampstead war eine hartnäckige Lehrerin. Beharrlich und unnachgiebig.«
»Da haben Sie ja einiges bei ihr gelernt.«
Langsam und widerwillig kletterte sie in das Loch hinein, zog sich Mantel und Mütze über und hockte sich, wie sie es gelernt hatte, im Schneidersitz auf den lehmigen Boden, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen geschlossen. Der Inhalatoraufsatz steckte unter der Mütze und bedeckte Mund und Nase.
Ein kurzes Nicken.
Sie vermochte also durch den Schlauch zu atmen.
Gut so!
Folglich begann ich damit, das Loch langsam zuzuschaufeln. Eine halbe Stunde später zeugte nur noch das eine Ende des Schlauches, das wie eine verrenkte Gliedmaße aus dem erdigen Boden rankte, davon, dass hier ein Mensch vergraben worden war.
»Ich habe Todesängste ausgestanden«, würde mir Emily später gestehen. »Was haben Sie sich nur dabei gedacht? Ich bin noch ein Kind!«
»Das bin auch ich gewesen. Und? Hat es mir geschadet?«
Flink würde sie antworten: »Fragen Sie bloß nicht!«
Beneidet hatte ich sie um diese Erfahrung nicht.
Noch zu gut wusste ich, wie sich die Erde anfühlt, wenn sie in großen Klumpen auf einen fällt und sich der ganze Körper verkrampft, wenn man spürt, wie sie von allen Seiten drängend nach einem greift, sich nass und fest an den Körper schmiegt, bis man denkt, keinen Atemzug mehr tun zu können. Es wird finster um einen, rabenschwarz und kühl. Die Nackenhaare stellen sich auf, wenn die Wesen, die in der Erde leben, die Haut streifen. Man hört nur ein tumbes Dröhnen, spürt Vibrationen. Man ist allein dort unten, unfähig, sich zu bewegen. Nicht einmal zu schreien vermag man. Da ist der erste Gedanke, der einem in den Sinn kommt: Was wäre, wenn der Schlauch reißt, der einem im Mund steckt, wenn ein Steinchen hineinfiele? Die Angst kriecht einem schnell ins Bewusstsein, nährt sich, wächst, wird zur Panik. Man möchte sich bewegen, wild mit den Händen scharren und der frischen Nachtluft entgegengraben. Tränen treten in die Augen, quellen hinter den zusammengekniffenen Lidern hervor und werden vom groben Stoff der Motorradmaske aufgesogen. Dann
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