Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
interessierte. »Warum musste ich mich in der Erde eingraben lassen? Warum musste ich all das andere Zeug über mich ergehen lassen?«
    Ruhig erklärte ich ihr: »Sie müssen sich der Dualität bewusst werden. Viele Trickster leiden unter der Andersartigkeit ihres Wesens. Wenn wir nicht lernen, uns selbst zu lieben, und damit meine ich alle Facetten unseres Selbst, dann wird unser Schicksal kein schönes sein. Sie, Emily, haben diese einzigartige Fähigkeit. Doch wenn Sie nicht lernen, sie zu beherrschen, dann wird sie Sie verzehren. Sie würden fremde Träume erleben und Bruchstücke fremder Leben im Kopf finden, und Sie würden all dem hilflos ausgesetzt sein, weil Sie nichts davon zu deuten wüssten. Sie würden beginnen sich selbst zu hassen, weil Ihnen ein normales Leben, so wie Sie es bei Ihren Mitmenschen sähen, verwehrt bliebe und Sie sich zudem niemandem anvertrauen könnten. Sie würden einsam werden und entweder im Morgen oder im Gestern leben, aber niemals mehr im Hier und Jetzt.«
    »Das notwendigste Werk ist immer die Liebe«, erinnerte Emily sich der Geschichte, die ich ihr erzählt hatte.
    »Womit nicht ausschließlich diejenige Liebe gemeint ist, die man für einen andern empfindet.« Ich ergriff ihre Hand, und Emily sah mich überrascht an, als ich eindringlich fortfuhr: »Es ist die Liebe, die Sie für sich selbst empfinden müssen. Für Emily Laing aus Rotherhithe.« Mit diesen Worten führte ich die nicht-mehr-ganz-so-kleine Hand zum Gesicht des Mädchens, strich die lange Strähne des roten Haars beiseite und ließ die Kinderhand auf dem Mondsteinauge ruhen. »Sie sind Emily Laing aus Rotherhithe«, flüsterte ich. »Sie sind, wie Sie sind.«
    Erschrocken sah mich das strahlend blaue Auge an.
    »Es ist leichter, als es Ihnen manchmal erscheint.«
    Ertappt blickte sie zu Boden.
    Wirkte verletzt und unsicher.
    Nach einer Weile flüsterte sie kaum merklich: »Ich verstehe.«
    Ich weiß nicht, was es war, aber etwas erfüllte mich mit Besorgnis ob dieser Antwort.
    Ablenkend brachte ich meine Argumentation auf den Punkt: »Deshalb müssen Sie all die Lektionen über sich ergehen lassen. Weil Sie die Emily, die all diese Dinge tun kann, ebenso lieben müssen wie diejenige Emily, die Sie im Spiegel sehen. Denn beide sind Emily Laing aus Rotherhithe.«
    Nachdenklich folgte sie meinem Blick zum Fluss.
    Emily erinnerte sich ungern ihrer ersten Lektion, doch genau daran musste sie denken, als sie der Geruch des frisch gemähten Rasens streifte, begleitet von den Düften des penibel hergerichteten Blumenbeets, das den Park vom Fußweg des Albert Embankments trennt.
    Als sie nach über einer Stunde, die sie im feuchten, kalten Dunkel unter der Erde des Old English Gardens und in meinem Verstand verbracht hatte – zumindest in demjenigen Teil des Hauses, den zu betreten ich ihr erlaubt hatte –, wieder neben mir stand, da waren ihr auf einmal Tränen über das Gesicht geronnen.
    »Es ist albern«, hatte sie gestammelt. Schluchzend, aber dennoch glücklich.
    »Es ist ja gut«, wollte ich sie beruhigen.
    »Das meine ich nicht.«
    Ihr Blick sagte mir, dass sie kein Mitleid wollte.
    »Die Nacht ist so schön!« Sie sah sich um. »Das alles hier. Es geht mir gut, Wittgenstein. Es ist nur so, als würde ich das alles hier zum ersten Mal erleben.«
    »Ich weiß.«
    Ein Lächeln.
    »Sie haben es auch erlebt?«
    »Mylady Hampstead entführte mich damals nach Kyle of Lochalsh an der Westküste Schottlands. Dort musste ich in eine Höhle hinabsteigen, die an den Klippen lag und die sich während der Flut vollständig mit Wasser füllte. Sie gab mir einen Stein mit auf den Weg.« Der Bilderjaspis schwebte noch immer in der Luft zwischen uns. »Diesen Stein hier. Die Rättin hatte mir aufgetragen, den Stein aus der Höhle hinauszubefördern, allein mit der Kraft meiner Gedanken.«
    »Sie hatten also auch Angst.«
    »Natürlich. Kein zwölfjähriger Junge genießt es, nach Einbruch der Nacht in einer Felsspalte festzusitzen, während die Flut den Wasserpegel langsam ansteigen lässt. Bis man das Gesicht gegen die Höhlendecke presst und den kalten Stein spürt und weiß, dass man nur noch wenige Sekunden zum Atmen hat.«
    »Sie mussten die Luft anhalten?«
    Das war die Lektion gewesen.
    »Mylady Hampstead war sehr … unnachgiebig in dieser Hinsicht gewesen. Ja, ich musste die Luft anhalten. Die Angst zu ersticken war damals sehr stark in mir. Das war meine schwache Stelle.«
    »Es geht also immer um die Angst.«
    »Sie

Weitere Kostenlose Bücher