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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Sie wusste kaum etwas von der Regentin und dem Senat und der wahren Bedeutung der BlackFriars-Bruderschaft. Allenfalls hatte sie bruchstückhafte Gespräche belauscht, die ihr ein lückenhaftes Bildnis dieser Welt hatten vermitteln können. Sie kannte nur das Tunnellabyrinth unterhalb Londons und einen Teil des äußeren Höllenkreises.
    Doch kannte sie noch immer nicht die Verbindungen.
    Was nicht weiter ins Gewicht fallen sollte.
    Wer kennt schon alle Verbindungen?
    »Ich glaube nicht«, gab ich ihr wahrheitsgemäß zur Antwort, »dass es ratsam ist, diese Frage bereits jetzt zu beantworten. Es wäre noch … zu früh.« Seufzend blickte ich zum Fluss hinüber. An einem Tag wie diesem konnte man die Schatten beinah vergessen.
    Beinah.
    »Ich bin also ein zweisames Wesen«, sagte Emily nach einem Augenblick des Schweigens.
    »Ja.«
    »Und Sie?«
    »Auch.«
    Sie grübelte kurz und fragte dann: »Warum?«
    »Gute Frage.«
    »Oh, bitte!«
    Nun denn!
    »Die Urvölker verfügten über sehr eindeutige Bilder der Trickster. Es war einfach, die Dualität zu erkennen, wenn man davon ausging, dass das Wesen halb Mensch und halb Tier war. Trickster waren mal böse und hinterhältig, dann wieder listig und trickreich. Manche waren verschlagen, andere liebten es, die Menschen zu necken. Viele von ihnen trugen Masken. Man wusste oft nicht, ob Trickster seriöse Schemen oder alberne Schatten waren.«
    »Sie waren also alles und nichts.«
    »Sie waren Schöpfer und Possenreißer, Geschichtenerzähler und Lügner. Doch hatten alle Mythologien eines gemeinsam: Die verschiedenen Trickstergestalten waren immer eindeutiger Natur. Man assoziierte die Trickster mit den Eigenschaften, die man bestimmten Tieren zuschrieb: Hase, Fuchs, Spinne, Ozelot oder Wolf. Was auch immer. Und schließlich brachte man sie mit diesen Tieren direkt in Verbindung.«
    »Sie meinen, dass man ihnen eine Gestalt verlieh, sodass man sie besser erkennen konnte?«
    Kluges Kind!
    »Die Menschen ängstigen sich vor allem Unbekannten. Andersartiges zu dulden ist nicht die herausragendste Eigenschaft des Menschengeschlechts. Ist jemand in der Lage, sich in eine Spinne oder einen Fuchs zu verwandeln, so liegt auf der Hand, dass es sich bei dieser Person um eine Laune der Natur handelt. Es ist offenkundig. Er ändert die Form und offenbart zweifelsohne dadurch seine Andersartigkeit.« Düstere Bilder tauchten in den hintersten Kammern meines Unterbewusstseins auf. Szenen, die sich zugetragen hatten, als die Menschen sich meiner Andersartigkeit bewusst geworden waren. »Doch Fähigkeiten wie jene, über die wir verfügen, sind nicht auf den ersten Blick zu erkennen. Sie zeigen sich überraschend. Wir leben nicht in der Welt der Mythen. Dies ist die Wirklichkeit. Und wenn sie eine Horde schottischer Dörfler und Bauern mit der Tatsache konfrontieren, dass ein achtjähriger Junge mit einem Mal dazu in der Lage ist, einen Wassereimer hochzuheben, ohne ihn anzufassen, dann erntet der Junge nur Angst und Wut.«
    Man wirft mit Steinen nach ihm und jagt ihn von dannen. Er verkriecht sich in den Bergen. Ist verzweifelt und hungert. Bis ihn eine Rättin anspricht … und mit ihm auf eine Reise geht, den ganzen langen, weiten Weg bis zur Stadt der Schornsteine am dunklen Fluss.
    »Wenn der Aberglaube diktiert, dass Trickster offenkundig zu erkennen sind, weil sie per Definition Gestaltwandler sind, dann liegt welche Schlussfolgerung nahe?«
    Emily antwortete schnell: »Dann gibt es keine Trickster, vor denen man sich ängstigen müsste, sofern man keine Gestaltwandler um sich her ausmacht.« Sie widerstand dem Drang, ihr Mondsteinauge zu berühren. »Und da es keine Gestaltwandler gibt …«
    »… außer unseren lykanthropischen Gesellen aus Whitechapel …«
    »… gibt es auch keine Trickster.«
    »Nichts Fremdartiges also, was zu fürchten wäre. Und somit ist der Pöbel beruhigt.«
    Über das Albert Embankment hinweg konnte man bis zur anderen Flussseite sehen. Die Bäume gaben den Blick frei auf das lang gestreckte Parlamentsgebäude am gegenüberliegenden Ufer. Viele der Touristen bezogen Position am Südufer, um die Sehenswürdigkeiten zu photographieren. Und niemand von ihnen ahnte etwas von den Monumenten, die unterhalb des Parlaments verborgen liegen. Bald schon würde ich mit Emily dorthin gehen.
    Doch dachten wir im hellen Sonnenschein nicht an das, was vor uns lag.
    »Warum all die Tests?« Das war es, was die nicht-mehr-ganz-so-kleine Emily an diesem Nachmittag

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