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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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verlieren wollte. »Wir müssen reden und wir sollten es nicht hier tun.«
    »Das, lieber alter Elf, denke ich auch.« Mit einem belustigten Funkeln in den Augen schlug Lord Nelson vor: »Du könntest mich zu einem Frühstück einladen.«
    »Könnte ich?«
    »Tu es, und ich werde dir ohne Klage folgen.«
    »Dann tu ich’s.« Maurice Micklewhite und der alte Nelson lachten laut auf. »Du hast dich nicht verändert, alter Mann«, stellte der Elf fest.
    »Oh, das klingt gar fürchterlich«, antwortete dieser bestürzt.
    Aurora ahnte, was Lord Nelson meinte.
    Die drei suchten also ein Café am Haymarket auf – dies jedoch erst, nachdem der alte Mann den Drehorgelwagen mit einer schweren Kette an einem der Treppengeländer festgebunden hatte, die hinunter zur U-Bahn führten.
    »London ist voller Diebesgesindel«, begründete er seinen Argwohn, »das nicht einmal vor einem schäbigen Drehorgelwagen Halt macht.«
    Auf dem Weg zum Haymarket gleich um die Ecke berichtete Maurice Micklewhite dem Alten von den Dingen, die Mylady Hampstead widerfahren waren und die wir alle mit Besorgnis beäugten.
    Während die beiden Männer miteinander sprachen, fragte sich Aurora, wo Emily sich in diesen Augenblicken wohl herumtreiben mochte. Nur ungern erinnerte sich Aurora an die Begebenheiten von vor einem Jahr und daran, was Emily ihr letzte Nacht über die Laterne hoch oben in der Kuppel von St. Paul’s gesagt hatte. Der Gedanke, dass Lycidas sich befreien könnte, erfüllte sie mit tiefster Besorgnis. Zudem hatte sie das Gefühl, dass mehr auf dem Spiel stand, als Emily und sie ahnten. Und sie fragte sich immer öfter, welche Rolle ihre Freundin in diesen Angelegenheiten spielte. Aurora wusste, dass auch Emily sich all diese Fragen stellte und es diese quälenden Fragen waren, die sie des Nachts nicht schlafen und am Fenster ausharren ließen.
    Damals, als Aurora nach Rotherhithe gekommen war, hatte sich Emily sofort des neuen Mädchens angenommen. Als sie weinend in der Mädchentoilette gekauert hatte, da war ihr nur noch nach Sterben zumute gewesen. Aurora konnte sich kaum mehr an die Stunden erinnern, in denen sie Madame Snowhitepink in jenes Haus geführt hatte. Sie wollte auch nie wieder daran denken müssen. Schlimm genug, dass sie manchmal in ihren Träumen dorthin zurückkehren musste. Die eigentliche Erinnerung begann mit jenem Moment, als Emily Laing sie in der Mädchentoilette fand und in die Arme schloss.
    Wie sehr hatte Aurora um Emily gebangt, als sie aus dem Waisenhaus geflohen war und später, als sie mit Wittgenstein durch London streifte! Doch nicht nur um Emily. Auch um ihrer selbst willen. Denn was wäre aus ihr geworden, wenn Emily vom Hause der Manderleys aufgenommen worden wäre? Sie hätte es niemandem erklären können, doch hatte sie von Anfang an das ungute Gefühl beschlichen, dass man Emily benutzen wollte. Für welche Zwecke auch immer. Abgesehen davon war Emily allerdings in der glücklichen Lage, zumindest zu wissen, wer ihre Familie war. Was jedes Waisenkind in Erfahrung zu bringen hoffte, war ihr zuteil geworden. Sie hatte ihre Wurzeln entdeckt. Wenngleich ihr dieses Wissen keinen sonderlich großen Gewinn brachte, so hatte sie doch immerhin erfahren, woher sie stammte.
    Was Aurora nicht von sich behaupten konnte.
    Viel zu oft fragte sie sich, wer ihre Eltern gewesen waren, wo sie gelebt und warum sie sie in eine grüne Mülltüte eingewickelt an dem Briefkasten im Stadtteil Fitzrovia ausgesetzt hatten.
    Obwohl die Quilps die besten Pflegeeltern waren, die man sich wünschen konnte, und Emily eine Schwester war, um die sie viele andere Kinder beneiden würden, fühlte sich Aurora dennoch wie ein Waisenkind. Ohne Wurzeln. Ohne Vergangenheit. Ohne das Gefühl, irgendwohin zu gehören.
    Emily war ihre einzige Familie.
    So war das.
    Als sie in dem Café am Haymarket saß und die anderen Gäste ihnen belustigte Blicke zuwarfen, da fühlte sie sich mit einem Mal wieder allein. Emily hätte jetzt hier sein sollen.
    Das Gespräch, das die beiden Männer führten, konnte zudem ebenso wenig dazu beitragen, sie aufzumuntern.
    »Deine Tauben haben ihre Augen überall, alter Freund.«
    »Sogar in der Nacht, wenn sie ruhen und unter den Simsen weilen.«
    Als die Bedienung Tee, Kaffee und Gebäck an den runden Tisch brachte, verstummte das Gespräch.
    »Ein seltsames Wesen wurde gesichtet«, sagte Lord Nelson, als sie wieder fort war, und biss genüsslich in ein Croissant. »Die Tauben berichten mir davon. Es

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