Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas
er das Laken, in das man mich eingewickelt hatte, und fand heraus, dass es aus einer Baumwolle gewoben war, die seit Jahren nicht mehr nach England geliefert wurde. Er las sich in die Schiffsregister ein und fand heraus, welche Schiffe besagte Baumwolle geliefert hatten. Du wirst es erraten; alle Schiffe gehörten ein und derselben Handelsgesellschaft. Thomas Trent, Esquire.«
»Dein Vater?«
Er nickte. »Mr. Dickens fand einige Photographien, und die Ähnlichkeit zu meinen Eltern war nicht von der Hand zu weisen.« Nachdenklich verfiel er in ein kurzes Schweigen.
Ein heftiger Regen hatte eingesetzt und trommelte wütend gegen die Fenster.
Emily hätte in diesem Moment gerne die Hand des Jungen ergriffen. Einfach nur, um ihn zu trösten, weil er so traurig wirkte. Die Tatsache, dass er sich die Traurigkeit nicht anmerken lassen wollte, bezauberte Emily nur umso mehr. Irgendwie fühlte sie sich selbst in diesem Augenblick stärker als ihr Gegenüber, und dieses Gefühl tat gut.
»Die Karibikgeschäfte standen unter keinem guten Stern. Einige Schiffsladungen gingen in Stürmen und durch Piraterie verloren, und mein Vater verschuldete sich. Als die Gläubiger sich schließlich die restlichen Schiffe aneigneten, erhängte sich Thomas Trent am Hauptmast der
Ismael
. Sogar die
Times
berichtete damals darüber.« Neil schluckte und fügte flüsternd hinzu: »Es gibt sogar eine Photographie davon. Viel zu grobkörnig, um etwas erkennen zu können, aber …« Er stockte. »Nun ja, meine Mutter war diejenige, die mich ausgesetzt hat. Eine Woche nach dem Selbstmord. Dann machte auch sie ihrem Leben ein Ende.« Der Junge hob den Blick und sah Emily an. »Das ist die Geschichte meiner Familie. Obwohl der alte Edward immer für mich da war und ich keinen meiner Verwandten, sofern es noch welche gibt, jemals getroffen habe, verspüre ich Trauer. Ist das nicht verrückt?«
Emilys Mund war ganz trocken.
»Nein.« Ihre Stimme klang heiser. »Ist es nicht.«
»Deswegen mag ich Bücher, die von der See erzählen«, sagte Neil nach einer Weile. »Von den Kolonien, fernen Ländern und unbekannten Ozeanen. Ich liebe das Meer, den salzigen Geruch und den stürmischen Wind, der einem ins Gesicht bläst. Wenn ich an der Themse sitze, dann stelle ich mir oft vor, am Bug eines großen Seglers zu stehen. Man muss nur die Augen schließen, und schon ist man draußen auf See.« Er lächelte, nunmehr freudig.
»Du bist oft unten an der Themse?«
»Ja. An den Docks in Southwark. Am Greenwich Pier, wo ich einfach nur dasitze und die
Cutty Sark
betrachte.«
»Das ist nahe Rotherhithe«, stellte Emily fest.
»Hm.«
Es könnte sogar sein, dass sie einander bereits einmal begegnet waren, dachte Emily sich. Der Gedanke hatte etwas seltsam Romantisches. Vielleicht war sie während einer ihrer Botengänge für den Reverend an Little Neil vorbeigegangen, ohne von dem Jungen Notiz zu nehmen, der auf einer der Bänke saß und den letzten Teeklipper betrachtete, der zwischen Ostindien und London verkehrt hatte, und davon träumte, einst selbst die Segel hissen und in See stechen zu können.
»Du bist verknallt in ihn«, foppte Aurora sie oft.
Was Emily vehement bestritt: »Bin ich nicht.«
Dessen war sie sich sicher.
Neil Trent war ein guter Freund.
Für einen Jungen war er sehr still und einfühlsam, und sie fühlte sich wohl in seiner Gegenwart.
Das sollte doch genügen.
Zudem erzählte Neil ihr viele Geschichten aus der Vergangenheit der uralten Metropole und dem London darüber. Die Whitechapel-Aufstände allerdings bildeten die Ausnahme.
»Ich weiß nur, dass es eine sehr schlimme Zeit gewesen ist«, sagte ihr Neil während einer ihrer nachmittäglichen Gespräche.
»Warum ist so wenig darüber bekannt?«
»Mr. Dickens sagt, dass die Menschen Angst davor haben, die Macht von damals erneut zum Leben zu erwecken. Das Übel schläft, munkelt man, und man solle sich hüten, es erneut zu wecken.«
»Klingt wieder sehr geheimnisvoll.«
»Ich bin mir sicher, dass die Alten mehr wissen, als sie preiszugeben bereit sind.«
Wütend musste Emily diese Tatsache hinnehmen.
Rottenshaw, der Vorsteher des Müllmarktes von Carfax, jedenfalls schien mehr zu wissen.
Emily wünschte sich, Neil wäre mit dabei.
Er hatte schon mehr von der Metropole gesehen als sie selbst. Er kannte den Ravenscourt und hatte sogar schon einmal Knightsbridge passiert. Es wäre ein gutes Gefühl gewesen, ihn jetzt neben sich zu wissen. Sei es auch nur, um jemanden zu
Weitere Kostenlose Bücher