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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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Passanten bedienen sollte. Sie hatte es als indiskret empfunden. Nichtsdestotrotz war es ein gutes Training gewesen. Sie sprang sozusagen von einem Passanten zum nächsten. Nahm hier die Sichtweise eines Angestellten an, sprang dort in das Bewusstsein eines Punks, der Graffiti an eine Mauer sprühte, durchforstete an anderer Stelle die Gedankenwelt eines Straßenmusikanten am Piccadilly.
    »Da ist nichts.«
    »Gut. Versuchen Sie es trotzdem weiter.«
    Wenn sich außer uns noch jemand hier unten herumtrieb, dann könnte es von Nutzen sein, einen Blick durch dessen Augen zu erhaschen.
    »Wenn etwas passiert, dann schlage ich Alarm«, versprach sie.
    Und dachte an die Geschichten, die ihr Little Neil Trent von der Region erzählt hatte. Neil mit seinen blauen Augen, die so fröhlich funkelten, wenn er von den Dingen erzählte, die er einst gelesen hatte. Die Region war in Neils Erzählungen eher eine Art Märchenzauberwelt gewesen, tief unter der Erde gelegen mit Geschöpfen so unsagbar und unbeschreibbar, dass er es auch gar nicht erst versucht hatte. Trotzdem waren es spannende Geschichten gewesen. Schicksale von mutigen Tunnelstreichern, die in die Region vorgedrungen waren, um ihrer Liebsten zu imponieren. Abenteuer mutiger Gewölbefahrer, die im Labyrinth dem Minotaurus von London begegnet waren. Kurzum: Es waren Märchen gewesen. Geschichten aus der uralten Metropole. Gutenachtgeschichten für Tunnelstreicherkinder.
    Emily hatte sie gemocht.
    Vor allem hatte sie es gemocht, wie Neil davon zu erzählen wusste. Seine Stimme klang ruhig und angenehm. Er vermag es, mit Worten zu lächeln, dachte Emily und fragte sich, woher dieses Zitat wohl stammte.
    Dessen eingedenk entsprach nichts hier unten dem Bild, das ihr der Junge aus dem Raritätenladen zu vermitteln versucht hatte. Kein Wort hatte Neil über das alte Londinium verloren, die versunkene Römerfeste, aus der später das heutige London geboren werden sollte.
    Geschichten und Wirklichkeit.
    So viel also dazu.
    Die Tunnelwände bestanden zu großen Teilen aus römischen Flachziegeln, die teilweise in herkömmliche Fliesen übergingen, die man überall in der U-Bahn finden konnte. Hohe, einstmals anmutige Gewölbe wurden durch ein filigranes Netz von Tunneln verbunden.
    Einmal versperrte ein großer, steinerner Kopf unseren Weg.
    »Wer ist das?«
    »Mithras, ein römischer Gott.« Das Ding mochte aus dem alten Tempel stammen, der sich hier irgendwo befunden haben musste.
    »Wird er reden?«
    »Und Gedichte verlangen? Ich hoffe doch nicht.«
    Wir gingen weiter.
    Schnellen Schrittes.
    Dem Irrlicht folgend.
    Nach einstündiger Wanderung erreichten wir eine Straße. Breit und lang, eine Hauptstraße tief unterhalb der City von London. Es war dort, wo wir auf dem spärlich beleuchteten Kopfsteinpflaster die ersten Lehmspuren fanden.
    Emily stand mit dem Rücken zur Wand und beobachtete, wie ich mich bückte, um den Fußabdruck zu untersuchen. Der Lehm war feucht und warm. Vor nicht allzu langer Zeit war der Golem hier entlanggekommen.
    Wachsam schaute ich in alle Richtungen.
    So weit das Irrlicht leuchtete, war keine Bewegung zu erkennen.
    »Ist es der Golem?«
    »Möglich.«
    »Ist er groß?«
    Ich erhob mich. »In London wird er keine Schuhe in seiner Größe finden.«
    »Oh.«
    Emily wusste, was ich jetzt von ihr verlangen würde.
    »Da ist etwas«, sagte sie.
    Ihr Auge war geöffnet.
    Seitdem wir in der City geübt hatten, musste sie die Augen nicht mehr schließen, um die Gedanken wandern zu lassen. Es fiel ihr nunmehr einfacher. Sie schickte ihr Bewusstsein auf Reisen, hinab in die Dunkelheit der Tunnel. Sie spürte jede Spalte zwischen den Steinen, jedes Körnchen Schmutz am Boden. Rasend schnell eilte sie durch das Labyrinth der Region und fand schließlich ein anderes Bewusstsein.
    »Es ist dumm«, murmelte sie.
    Das passte.
    Der Verstand, in dem sie sich befand, war langsam und tumb. Dem eines Tieres ähnlich, das zwar seine Umwelt wahrnimmt, sie aber nur instinktiv zu deuten weiß. Das Wesen, durch dessen Augen Emily blickte, bewegte sich äußerst schnell. »Es findet sich vortrefflich in der Dunkelheit zurecht.« Die Orientierung fiel Emily jedoch schwer, da sie noch immer von vollständiger Nachtschwärze umgeben war. »Ich habe keine Ahnung, wo es sich befindet. Aber es läuft schnell.« Plötzlich hielt es inne, und für einen Sekundenbruchteil loderte dicht vor dem Auge des Wesens ein Licht auf, in dessen Schein ein Gesicht aufflammte.
    Dann war es

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