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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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hatte er sein Leben vor ihr ausgebreitet und mit holder Stimme von den Dingen berichtet, die ihn den lieben langen Tag beschäftigten. Die Region kartographiere er im Auftrag des Senats, der wiederum den Handelsgilden etwas Gutes tun wolle, die unter den Wegzöllen Kensingtons litten. Eine neue Route, die die Stadtteile verbindet, solle hier unten entstehen. Das sei seine Aufgabe, und er habe immer davon geträumt, die Welt verändern zu können mit dem, was er tue.
    »Steerforth ist ein bekannter Name in Twickenham«, erklärte er. »Seit Jahrzehnten waren die Mitglieder meiner Familie Kaufleute. Damien Steerforth, mein Vater, hatte sogar den Vorsitz in der Ost-Indien-Handelsgilde inne. Was glauben Sie wohl, was man von mir erwartete?«
    »Auch Sie sollten einmal ein Kaufmann werden.«
    »Genau.«
    »Sie haben sich geweigert?«
    Wie so oft waren es die Wurzeln des Menschen, die einen machtvollen Sog ausübten und das Schicksal des Einzelnen zu bestimmen suchten. Die Familie war allgegenwärtig: Der Wunsch, einer Familie anzugehören, der Wunsch, der eigenen Familie zu entkommen, das Unwissen, wer die eigene Familie war, genauso wie die Gewissheit, von der eigenen Familie verleugnet zu werden. Alle Wünsche und alle Befürchtungen endeten zwischen den Wurzeln. Familie war wie ein Schatten, der einem allzeit folgte, und den abzuschütteln einem hoffnungslosen Unterfangen gleichkam.
    »Weigert man sich, wenn ein solcher Wunsch an einen herangetragen wird?«
    »Vielleicht.« Emily fragte sich, wie ihr Leben wohl ausgesehen hätte, wenn man sie nicht der Obhut des Reverends übergeben hätte. Wenn sie als eine Manderley herangewachsen wäre.
    »Die schlimmste Frage, die man sich stellen kann«, hatte ich ihr einmal gesagt, »ist dieses
Was-wäre-wenn

    Steerforth fragte sie: »Hätten Sie sich verweigert?«
    »Ja.« Entschlossen hatte das klingen sollen. Selbstbewusst und keck.
    Steerforth wirkte traurig. Nachdenklich. »Die Entschlossenheit früher Jugend«, murmelte er. »Ich wusste damals nicht, was aus mir werden sollte. Eines wusste ich jedoch mit Bestimmtheit: kein Kaufmann. Es entsprach nicht meinem Gemüt, die Nase in Bilanzen und Geschäftsberichte zu stecken. Die Erbsenzähler, die in der Gesellschaft meines Vaters arbeiteten, hatte ich immer schon verachtet. Traurige Existenzen, die säuberlichste Striche zogen und genaueste Summen ermittelten.« Mit einem abfälligen Zucken der Mundwinkel merkte er an: »Heute findet man derlei Brut zuhauf in der City. Im Bankenviertel und den Hochhäusern am Embankment. Sie nennen sich Controller und Manager und prostituieren sich doch nur für Geld.« Mit einer wegwerfenden Handbewegung brachte er es auf den Punkt: »Sie sind die fürstlich entlohnten Restefresser der neuen Weltordnung und letzten Endes doch immer nur Restefresser.«
    Emily kannte die Männer in den dunklen Anzügen und die Frauen in ihren blauen Kostümen, die in den Mittagspausen, die Zeitung unter dem Arm und eine Zigarette im Mundwinkel, mit unruhigem Blick ihren Kaffee schlürften, während die Zeit verrann und das Geld für sie arbeitete. Sie verachteten jeden, der nicht ihrer Kaste angehörte. Restefresser war vielleicht kein so unpassender Ausdruck für sie.
    Wenngleich Emily ihren neuen Begleiter noch nicht gut genug kannte, um sich ein Urteil erlauben zu können, fand sie es dennoch höchst befremdlich, sich Steerforth als Buchhalter vorzustellen.
    In seiner Lederkluft wirkt er wie ein dunkler, schöner Gott, dachte das Mädchen. Wie Paris von Troja, der gerade einer Szene-Diskothek am Piccadilly entstiegen war. Traurig und wunderschön und irgendwie unnahbar.
    Ganz anders als Neil.
    »Was haben Sie getan?«, hatte Emily das Ende der Geschichte hören wollen.
    »Das Einzige, was mir übrig blieb«, gab er zur Antwort. »Will die Familie einen nicht loslassen, dann muss man eben die Familie loslassen. Kurzum: Ich habe der Sippschaft der Steerforths aus Twickenham entsagt. Es kam zum Bruch mit meinem Vater und dem Rest der geldgeilen Verwandtschaft.« Er lächelte, und dieses Lächeln war wunderbar anzuschauen. »Ich wurde Kartograph. Ging meinen eigenen Geschäften nach. Es gibt da dieses alte Sprichwort. Wirklich sehr alt.« Grinsend merkte er an: »Und so abgedroschen.« Das Lächeln ermattete, wenn auch nicht zur Gänze. »Jeder ist seines Glückes Schmied.«
    Emily hatte davon gehört.
    »Hm«, machte sie.
    »Viel Wahrheit steckt in diesen Worten, Miss Laing, das können Sie mir glauben. Ich

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