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Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
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er wieder.«
    Was Emily fragen ließ: »Was denn genau?«
    »Irgendwas«, antwortete Neil.
    »Darunter kann ich mir einiges vorstellen.«
    »Wenn man ihn fragt, was er denn schreibt, dann antwortet er immer das Gleiche: Ich schreibe Worte, eins nach dem anderen, von links nach rechts und von oben nach unten, und wenn ich fertig bin, dann bekommst du es zu lesen.«
    So kann man es auch sehen, dachte sich Emily.
    Und wandte sich den Büchern zu.
    Das Buch von Miss Monflathers lag auf Emilys Schoß, und ihre Finger glitten ehrfürchtig über den schwarzen Stoffeinband. Morgaine Monflathers. Keines der Kinder in Miss Monflathers Schule hatte sich jemals Gedanken darüber gemacht, welchen Vornamen die betagte, aristokratisch anmutende Schulleiterin wohl hätte. Das »Miss« in Miss Monflathers passte besser als jeder Vorname zu der Leiterin der Lehranstalt. Bis auf Morgaine, korrigierte Emily sich. Strenge und Kälte klangen in diesem Namen mit. Morgaine Monflathers, die tief unten in der Metropole bei den Black Friars gelebt hatte. Einst. Vor langer Zeit. Und der Titel des Buches klang zudem überaus … mythisch:
Midrash und Kabbala
.
    »Ich mache uns Tee, und dann fangen wir zu lesen an.«
    Gegen Neils Vorschlag war nichts einzuwenden.
    Emily blies sachte den Staub von dem Einband. Dann klappte sie das Buch auf und begann zu blättern. Ihr Auge folgte den Buchstaben, die geschwungen und kryptisch die Geschehnisse aus alter Zeit vor ihr aufrollten. Ein ganzes Kapitel hatte die Monflathers der Lichtlady gewidmet, wenngleich sie diese nicht als Lichtlady bezeichnete.
    »
Lilit, Malkah ha-Shadim
«, flüsterte Emily die Kapitelüberschrift.
    Neil kam mit dem Tee zurück.
    Und Emily tauchte ein in eine fremde Welt.
    Der Regen hatte London wie so oft fest im Griff. Und doch hatte es die beiden Kinder hinunter zum dunklen Fluss verschlagen, wo sich hinter einer Wand aus Nieselregen die wenigen Schiffe stromaufwärts kämpften. Die letzten beiden Stunden hatten sie in den Büchern geschmökert, die ihnen Mr. Dickens empfohlen hatte. Anschließend hatte es beide danach verlangt, ins wirkliche London hinauszugehen. Nicht einmal das garstige Wetter hatte sie davon abhalten können, hinunter nach Greenwich zu fahren, das im Südosten von Central London liegt. Sie hatten die Docklands Light Railway genommen und waren, anstatt bis nach Greenwich durchzufahren, an der Station Islands Gardens ausgestiegen. Von dort aus führte der fast vierhundert Meter lange Fußgängertunnel aus dem Jahre 1902 unter der Themse hindurch, und man entstieg der Unterwelt direkt am anderen Flussufer. Der Tunnel ist es, der Greenwich mit der Isle of Dogs verbindet, auf der Bürogebäude, Yuppie-Wohnungen und der stadtübliche Dreck dicht an dicht anzutreffen sind.
    »Da ist sie«, sagte Neil ehrfürchtig, als die beiden der Unterwelt direkt am King William Walk entstiegen.
    Und Emily verstand.
    Vor den Kindern erhob sich der spitze Bug des majestätischen Klippers
Cutty Sark
, der einst die Weltmeere befahren und nun ein Heim am Greenwich Pier gefunden hatte.
    »Früher einmal war sie das schnellste Schiff«, erklärte Neil seiner Begleiterin, »das die sieben Weltmeere umsegelt hat.«
    Die blauen Augen des Jungen leuchteten.
    Unschwer erkannte Emily das Fernweh in diesem Blick.
    »Hier komme ich her, wenn ich den Kopf freibekommen möchte.«
    »Ich verbringe die Zeit im Raritätenladen inmitten all der alten Bücher«, entgegnete Emily.
    Verstehen konnte sie jedenfalls, weshalb Neil diesen Ort aufsuchte. Die Zeit war wie zurückgedreht, wenn man den Klipper betrachtete. Da war das Holz, das die Spuren vieler Stürme erkennen ließ. Die Masten, die hoch hinaufragten, und die Takelage, in der sich einst Seeleute bewegt hatten. Wenn der Wind vom Fluss herüberwehte, dann knarzte das alte Holz, und es war, als wolle das Schiff zu einem sprechen. Emily fragte sich, ob Neil, wenn er die
Cutty Sark
ansah und auf der Holzbank verweilte, auf der sie beide nun saßen, manchmal an das Bild aus der Zeitung dachte. Jene Photographie, die, wenngleich grobkörnig, so doch unmissverständlich den am Großmast der
Ismael
baumelnden Leichnam seines Vaters zeigte. War dies ein Bild, das der Junge nicht mehr aus seinem Kopf bekam? So wie auch Emily von Bildern gemartert wurde, die einen, wenn sie da sind, nie wieder loslassen.
    Neil hatte nie wieder vom Selbstmord seines Vaters gesprochen. Nur jenes eine Mal.
    Dabei hatte er es bewenden lassen.
    »Eines Tages«, verkündete

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