Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas

Titel: Die uralte Metropole Bd. 1 - Lycidas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Marzi
Vom Netzwerk:
bin das geworden, was ich werden wollte. Ich bin mein eigener Herr und niemandes Untertan. Kein Diener der Bilanzen und keine Hure der Kaufverträge.«
    Wie seltsam, dachte sich Emily. Da hatte jemand eine richtige Familie und erflehte doch nichts sehnlicher, als von dieser Fessel erlöst zu werden. Dorian Steerforths dunkle Augen verschwanden teilweise in den Schatten, die sie wie Wolken umspielten.
    »Sind Sie glücklich?«
    Steerforth wirkte überrascht. »Stellen Sie Fremden immer solch direkte Fragen?«
    »Ich kenne nicht viele Fremde«, sagte Emily wahrheitsgemäß.
    Neil hätte diese Antwort zweifelsohne komisch gefunden.
    Wie bereits gesagt, mochte er Emilys Humor.
    Steerforth wirkte irritiert.
    »Und? Sind Sie glücklich?«
    »Was ist schon Glück?«
    »Hm, geht es Ihnen gut?«, änderte Emily die Formulierung.
    »Ja, es geht mir gut. Und wenn dies mit Glück gleichzusetzen ist, dann bin ich auch ein glücklicher Mensch. Ja, doch … ich bin glücklich. Glücklicher als andere, die wiederum glücklicher sind als wieder andere. Es ist alles eine Frage der Perspektive, wie so oft im Leben. Wo stehen wir und was sehen wir in den Menschen? Wo stehen die Menschen und was erlauben sie uns von sich zu sehen? Was sehen Sie in mir, Miss Emily Laing aus Hampstead?«
    Sie gab die einzig richtige Antwort: »Fragen Sie nicht!«
    »Das sagen Sie oft«, bemerkte Steerforth.
    »Ja.«
    »Warum?«
    Und wieder: »Fragen Sie nicht.«
    Dorian Steerforth gab Ruhe, und schweigend gingen sie den Rest des Weges bis hinauf zum Siding, das nach Moorgate führte. Es war ein beschwerlicher Aufstieg über alte, verwitterte Treppen, glitschig von der Dunkelheit und der Feuchtigkeit, die die Erde absonderte. Als sie die Bahn erreicht hatten und in einem der engen Waggons standen, fiel Emily auf, dass die Leute sie beide verstohlen anstarrten. Nein, es war nur Steerforth, den sie anstarrten.
    Es gefiel Emily nicht sonderlich, dass die Leute dies taten.
    Als sie die U-Bahn verließen, war Emily froh, dass Steerforth einen Wagen zur Hand hatte, hinter dessen verspiegelten Scheiben sie sich vor den Augen der Menge verbergen konnte. Kurz bevor sie einstieg, wobei Steerforth ihr wie ein Gentleman die Tür öffnete, sah Emily ihr eigenes Spiegelbild im Fensterglas des Wagens und erschrak darüber, wie müde und erschöpft sie aussah. Sie selbst fand sich nicht hübsch und mochte das leblose Auge gar nicht ansehen, wenngleich ihr der Mondstein, aus dem es gefertigt war, doch ans Herz gewachsen war. Das bin nicht ich, dachte sie. Wie immer, wenn sie ihr Spiegelbild erblickte, wurde ihr klar, dass sie bis an ihr Lebensende so aussehen würde. Das steinerne Auge würde immer da sein. Auf ewig. Ihr Gesicht würde altern, und der Mondstein in der leeren Augenhöhle würde noch immer so aussehen wie einst, als das Gesicht das eines Kindes gewesen war. Selbst im Tode würde der Mondstein noch in der Erde ruhen, wenn ihre sterblichen Überreste längst zu Staub zerfallen waren.
    Sie schüttelte den unliebsamen Gedanken ab.
    Versank stattdessen in der eleganten Limousine. Roch die Ledersitze und genoss das Gefühl, die nächtliche Stadt an sich vorbeirasen zu sehen. Passanten und Lichter und Regen und Geräusche. Steerforth hatte eine CD eingelegt, und die Musik füllte den Wagen aus.
Libertango
von Grace Jones. Emily ließ sich von der Melodie einlullen und lauschte dem Text, während sie von der Seite verstohlen das Antlitz des Kartographen betrachtete.
    So brachte Steerforth sie nach Hause.
    Emily erkannte die Straßen wieder, die sie sonst zu Fuß beschritt.
    Dann erreichten sie Streatley Place No. 17.
    »Ich hoffe doch, wir sehen uns wieder.« Mit diesen Worten hatte sich Steerforth verabschiedet, und Emily waren die Knie ganz weich geworden beim Klang seiner Stimme.
    Etwas hatte er ihr zugeflüstert. So leise, dass es außer ihr niemand hatte hören können: »Nennen Sie mich Dorian.« Nicht, dass er eine Antwort abgewartet hätte. Nein, der Wagen war um die nächste Ecke gebraust, bevor Emily sich wirklich bewusst geworden war, was sich gerade zugetragen hatte.
    I’ve seen that face before
, erinnerte sie sich des Liedes, das Steerforth im Wagen gehört hatte.
    Nein, nicht Steerforth, hatte sie sich verbessert.
    Dorian.
    Dorian Steerforth aus Twickenham, der in die Nacht verschwunden war und das Herz des jungen Mädchens mit sich genommen hatte.
    Warum musste sie ausgerechnet jetzt daran denken? Es war ihr peinlich. Dass Neil ihre Gedanken weder

Weitere Kostenlose Bücher